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Zuckerpüppchen - Was danach geschah

Zuckerpüppchen - Was danach geschah

Titel: Zuckerpüppchen - Was danach geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Hassenmüller
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hinterherweinen.
    Das war nicht wahr. Ihre Kinder würden weinen. Natalie und Manfred und Daniel und Alex würden weinen. Die beiden Jungen würden sie vermissen. Ganz bestimmt zu Anfang. Bis die andere ihren Platz eingenommen hatte.
    Sie nahm eine Abfahrt von der Autobahn und fuhr über eine Landstraße. Ihr Mund war trocken, ihre Augen brannten in den trockenen Höhlen. Wie sollte sie es tun? Mit voller Wucht gegen einen Baum? Manchmal konnte man so etwas doch noch überleben. Querschnittgelähmt oder gräßlich verstümmelt. Tabletten, sie hatte zwei Röhrchen mit Schlaftabletten und Beruhigungstabletten bei sich. Irgendein Hotelzimmer nehmen und alles schlucken. Es durfte sie nur keiner finden. Nicht zu früh. Dann würde man ihr den Magen auspumpen, und sie käme auf die Psychiatrie. “Du bist doch nicht mehr normal”, hatte Hubert letzte Nacht gesagt. “Sieh doch nur, wie du dich aufführst.” Nein, ihr Verhalten war nicht mehr normal. Sie war hysterisch, unbeherrscht, am Ende. Aber dann lieber richtig, nicht dahinvegetieren in irgendeiner Anstalt. Sie fuhr durch ein Dorf. Wie gemütlich die holländischen Dörfer aussehen. Warme Lampen vor den Fenstern, Menschen, die dicht beieinander saßen. Sie fühlte wieder Tränen über ihr Gesicht laufen, Selbstmitleid und eine unendliche Einsamkeit überschwemmten sie. “Hotel zum Adler”, las sie und fuhr auf den Parkplatz. Ihr Tank war beinahe leer. Es war dunkel. Sie mußte stundenlang gefahren sein. Hubert war jetzt zu Hause. Die Zeilen an die Kinder hatte er wahrscheinlich gelesen. Ob es ihm etwas ausmachte? Er hatte ihren Entschluß auf ihrem Gesicht gesehen.
    Es würde ihm unangenehm sein gegenüber ihren gemeinsamen Freunden, Bekannten und vielleicht in der Firma. Aber dann würde er seufzen und sagen: “Ihr wißt ja, was sie durchgemacht hat. Diese Jugend...” Und man würde ihm auf die Schulter klopfen und murmeln, daß es so vielleicht besser sei, auch für die Kinder. Sie schluchzte gequält auf. Warum war es besser, wenn sie verschwand? Warum konnte sie ihre Kinder nicht versorgen, bemuttern, lieben, wie sie nie geliebt worden war? “Ich muß etwas trinken”, murmelte sie, “etwas Warmes trinken und dann ins Bett.” Mit all den tröstlichen, kleinen, gelben Gefährten, die in den Glasröhrchen in ihrer Handtasche nur darauf warteten, ihr die Hand zum letzten Weg zu reichen. Ich möchte eine Hand haben, nur eine einzige Hand, die mir hilft und mir den Weg zeigt. War dies der Weg? “Ich muß mich ein wenig zurechtmachen”, sagte sie laut, um es gut zu sich durchdringen zu lassen. “Zurechtmachen. So, wie ich jetzt aussehe, gibt mir keiner ein Hotelzimmer.” Im Licht des Autospiegels erneuerte sie den Lidschatten auf ihren verquollenen Augenlidern, bestäubte das fleckige Gesicht mit einem leichten Puder und zog ihre Lippen nach. In Amerika malen sie die Toten noch an, ging es ihr durch den Kopf. Wie sich das wohl anfühlte, wenn die Haut kalt und straff war, die Lippen blutleer. Und wie ich wohl aussehe, wenn ich tot bin, dachte sie und betrachtete sich in ihrem Handspiegel. Er würde es doch nicht gestatten, daß die Kinder sie noch einmal sahen? Die Kinder sollten sie so nicht in Erinnerung behalten. Wie dann wohl? Sie würden sich immer an die letzten Monate erinnern, eine weinende, zusammengekrümmte Gestalt in einer Sofaecke, die stundenlang auf den Bildschirm starrte. Wollte sie so in der Erinnerung ihrer Kinder bleiben? Oh mein Gott, wie kann ich sie nur so belasten? Warum kann ich nicht stark sein, warum nicht mit ihnen leben? “Vielleicht sollten wir wirklich versuchen, neu anzufangen”, hatte Mutti einmal im Krankenhaus gesagt, damals, als ihre Pulse dick verbunden waren. Sie hatte es nicht geschafft. Sie hatte keine Kraft gehabt. Gaby stieg aus dem Auto und lief mit hölzernen Beinen auf das kleine Hotel zu. Eine warme Welle von Gemütlichkeit schlug ihr entgegen, in der Ecke bei der Bar knisterte ein Kaminfeuer, auf jedem Tisch brannte eine Kerze. “Eine heiße Schokolade bitte”, sagte sie zu der Bedienung und wunderte sich, daß ihre Stimme fast normal klang. Aber das war ja ihre stärkste Seite, daß immer alles so normal an ihr wirkte. Den verrotteten Kern sah man nicht. “Kann ich bei Ihnen übernachten”, fragte sie die junge Frau, als sie ihr die dampfende Schokolade brachte. “Ich bin zu müde, um heute noch weiterzufahren.” — “Haben Sie es noch weit?” Da klang doch etwas wie Mißtrauen in der Stimme.

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