Zuckerpüppchen - Was danach geschah
“Deutschland, ich muß noch zu Verwandten nach Köln.” Wieso Köln? Sie kannte niemand in Köln. Sie war vor Jahren einmal mit Hubert im Kölner Dom gewesen. Eine Kerze hatten sie zusammen angezündet, und Gaby hatte wie immer gebetet: “Lieber Gott, heilige Mutter Gottes, hilf mir.” Sie hatten ihr nicht geholfen.
“Nach Köln? Da haben Sie aber noch ein Stückchen Weg vor sich. Sie kommen bestimmt vom Flughafen?” — “Vom Flughafen? Ja, vom Flughafen. Mein Gepäck ist im Auto. Habe ich heute nacht nicht nötig.” Sie legte ihr steifes Gesicht in kleine Lachfalten. “Ich habe nur noch ein warmes Bett nötig.” — “Ich bringe Ihnen gleich den Schlüssel”, versprach die Hotelangestellte und verschwand.
Wer sie wohl morgen früh finden würde? Ob es ein Schock war, so eine fremde Tote im Bett? Aber das war doch wie schlafen, nicht weiter entstellt, kein Blut, nur Blässe, Starre. Und sie war eine Fremde, keine, um die man sich weiter Gedanken machen mußte, um die man trauern mußte.
Sie nahm den Zimmerschlüssel und ging die schmale Treppe hoch zum ersten Stock. “Hallo?” Die Angestellte rief von unten an der Treppe. Erschrocken drehte Gaby sich auf dem Absatz um und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. “Neben Ihrem Zimmer ist das Badezimmer. Vielleicht wollen Sie noch ein warmes Bad nehmen?”
Was entscheidet über Leben und Tod, über Glück und Unglück? Die Stunde der Geburt, Ort, Nationalität, die Eltern, Krankheiten und all die kleinen Zufälligkeiten, die unser Leben bestimmen, die uns an Wegkreuzungen diesen und nicht jenen Weg nehmen lassen. “Wollen Sie vielleicht noch ein warmes Bad”, hatte die Frau gerufen. Ein warmes Bad. Wie sich das wohl anfühlte, wenn ihre steifen, schon fast erkalteten Glieder eintauchen würden in ein warmes Bad? Sie schloß mit ungeschickten Fingern ihre Zimmertür auf und sah sich in dem kleinen Zimmer um. Ein Eichenbett, ein Tisch mit einem kunstlederbezogenen Stuhl davor und ein Schrank. Sie stellte ihre Handtasche auf den Tisch und setzte sich auf das Bett. Es war hart. Ausziehen wollte sie sich nicht, man sollte sie nicht unbekleidet finden. Ein warmes Bad. Noch einmal die streichelnde Wärme von warmem Wasser fühlen. Ihr war so entsetzlich kalt, daran hatte auch das heiße Getränk nichts geändert. Sie stand schwankend auf. Ihr Magen war leer. Aber das machte nichts. Es würde doch nur alles verfaulen, in ihr, aus ihr, alles würde verfaulen. Sie stöhnte auf. Nicht daran denken. Sie öffnete ihre Zimmertür, sah auf das Messingschild an der Tür neben ihrem Zimmer. “Bad” stand mit verschnörkelten Buchstaben darauf. Zögernd öffnete sie die Tür, als wenn sie in ein verbotenes Reich schauen würde. Es war ein modernes Bad mit weißen Kacheln, einer großen weißen Badewanne und davor ein Ständer mit flauschig weißen Handtüchern. Sie nahm eines der Handtücher und vergrub ihr Gesicht darin. Auf dem Gang hörte sie Schritte. Erschrocken schloß sie die Tür ab und setzte sich auf den Wannenrand. Sie drehte an dem Knopf, und warmes Wasser ergoß sich in die Wanne. Sie öffnete zwei der Kissen mit Badeschaum, die in einem Körbchen in der Ecke der Wanne standen. “Für unsere Gäste”, stand darauf. Eine grüne geleeartige Masse tropfte über ihre Finger in das Wasser und verbreitete sofort einen intensiven Tannennadelduft. Langsam zog sie ihre Kleider aus, die schwarze Hose, das dazu passende schwarzweiße T-Shirt, ihre Unterwäsche. Sie ließ alles auf den Boden gleiten und stieg in die Wanne. Das Wasser schwappte ein wenig. Sie setzte sich, schloß die Augen und legte sich zurück. Gott, was für ein herrliches Gefühl. Das heiße Wasser nahm ihr beinahe den Atem, prickelte auf ihrer Haut. Was für ein Duft. Tannennadeln. Wie oft sie mit Hubert und den Kindern im Wald spazierengegangen waren. So glücklich hatte sie sich dann gefühlt. Sein Arm um ihre Schultern, die Kinder vor ihnen, sich hin und wieder hinter einem Baum versteckend, lachend, lebendig. Blaubeeren hatte er für sie gepflückt. “Mach den Mund auf’, hatte er scherzend kommandiert. “Mund auf und Augen zu.” Sie hatte ihm gehorcht, ihm vertraut.
Ich habe ihm immer und immer wieder vertraut, dachte sie gepeinigt und fühlte wieder Tränen unter ihren geschlossenen Augenlidern hervorquellen. Warum nur hat er mein Vertrauen so mißbraucht? Lag denn alles nur an ihrer Jugend, lag es nicht auch daran, daß sie in den letzten fünfzehn Jahren hin und her
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