Zuckerpüppchen - Was danach geschah
sagen. Sie schlug die Augen auf. Hubert stand da und neben ihm seine Mutter. “Ich sagte doch zu dir, mein Guter, alles, was sie jetzt braucht, ist Schlaf.” — “Kleines”, sagte Hubert und beugte sich zu ihr herab, um sie zu küssen. Sie drehte den Kopf zur Seite, schloß die Augen. Schlafen, ja. Nur noch schlafen. Und nie wieder wach werden zu müssen.
Hubert hatte den Frühstückstisch üppig gedeckt. Er liebte es, ausgiebig zu frühstücken. Wurst, Käse, verschiedene Sorten Marmelade, frische Kräuter. “Deine Frau hat es gut”, bemerkte Huberts Mutter. “Welcher Mann macht schon so ein Frühstück für seine Familie?” — “Hubert macht immer das Frühstück”, sagte Natalie und schnitt sich eine dicke Scheibe Käse ab. “Wirklich?” sagte Huberts Mutter. Gaby wunderte sich, wie sie es fertigbrachte, in dem einen Wort so viel Mißbilligung und Verwunderung über diese schockierende Tatsache zu legen. Hubert hatte es selbst angeboten, weil es ihr morgens nicht gut ging. Erbrechen, Schwindelanfälle.
“Ja”, bestätigte Gaby. “Sieht alles sehr appetitlich aus.” Auch jetzt war ihr übel. Am liebsten wäre sie noch im Bett geblieben, aber allein im Schlafzimmer fühlte sie sich von allem ausgeschlossen. Stundenlang lag sie da und starrte zur Decke. In der Feme hörte sie Stimmen, Gelächter, Türen schlagen. Huberts Kinder waren da gewesen. Sie gehörte nicht dazu. Sie hatte noch nie dazugehört. Auch früher bei Mutti nicht. Im Laufe der Jahre hatte sie immer deutlicher ihre Abneigung gefühlt. Oder war es schon Haß? Sie hatte sie nie in den Arm genommen. Nur abends hatte sie ihr die Wange zum Gutenachtkuß gereicht. Gaby liebte die weiche Haut mit dem zarten Flaum, den feinen Geruch, der von ihr ausging. Manchmal, wenn sie alleine war, hatte sie ihr Gesicht in Muttis Seidenschal vergraben. Der roch wie sie und war weich und sanft. Beinahe so, als wenn sie sie streichelte.
“Du mußt essen”, sagte Hubert, “damit du wieder zu Kräften kommst.” — “Ja”, sagte Gaby, “natürlich.” Nur mit Mühe konnte sie den Widerwillen gegen all die Münder um sie herum unterdrücken. Da wurde abgebissen, gekaut, zermahlen, geschluckt.
“Köstlich, der Schinken, mein Guter.” — “Darf ich noch etwas von der Wurst?” — “Mammi, machst du mir ein Brot mit Honig?” — “Natalie, gib Omi den Käse!” — “Manfred, die Schokoladencreme bitte!”
Essen, essen, essen. Gaby bestrich Daniels Scheibe Brot mit Honig und schnitt sie in kleine Stückchen. “Hier, mein Schätzchen.” Er lachte sie strahlend an. “Mammi lieb!” Sie fühlte, wie eine warme Welle über sie schwappte und beugte sich zu ihm. “Daniel ist auch lieb”, flüsterte sie und küßte ihn auf seine Stupsnase. Er gluckste fröhlich und griff mit seinen Fingern in ihr langes Haar.
“Das Kind hat klebrige Finger”, sagte Huberts Mutter. “Du mußt selbst essen”, sagte Hubert zu ihr.
“Ich fühle mich nicht gut”, sagte Gaby, ohne aufzusehen. Sie steckte Daniel ein weiteres Stückchen Brot in den weit geöffneten Mund. Mein Spätzchen, dachte sie und küßte ihn auf die mit Honig verschmierten Lippen.
“Marie, unser Mädchen, hatte früher auch öfter Fehlgeburten”, sagte Huberts Mutter. “Den nächsten Tag stand sie schon wieder in der Küche.”
“Möchtest du noch Kaffee?” fragte Hubert. Gaby nickte. Erleichtert schenkte er ihr ein.
“Möchtest du einen Saft?” hatte Mutti sie vor Ewigkeiten gefragt, als sie kaputtgeschlagen im Bett gelegen hatte. “Ja”, hatte das Kind Gaby gesagt. Dann hatte Mutti Pappi mit dem Saft zu ihr geschickt. “Unsere Abmachung gilt?” Sie hatte beim Klang seiner Stimme zu zittern begonnen. “Zweimal wöchentlich?” — “Ja”, hatte das Kind gesagt. “Zweimal wöchentlich.”
“Mammi aua?” fragte Daniel. “Das geht vorbei”, sagte Huberts Mutter und legte sorgfältig ihre verschiedenen Pillen der Größe nach in eine Reihe. “Ist es nicht schlimm, mein Guter, daß deine Mutter so viele Pillen schlucken muß?” — “Aber es geht dir doch gut damit?” Hubert holte ein Glas Wasser für sie. “Der Arzt sagt, mit den Pillen kannst du uralt werden.” — “Ach ja, der Arzt...” Sie lächelte schwach. Dann schien sie sich einen Ruck zu geben. “Auf jeden Fall genieße ich es, hier bei dir zu sein, mein Guter.”
Warum sagt sie nie ‘euch’, dachte Gaby. Es ist doch auch mein Haus. Ich wohne hier auch. Für meine Kinder ist es ihr Zuhause.
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