Zuckerpüppchen - Was danach geschah
hatte sie Gott schon um Hilfe angerufen, und hatte er ihr je geholfen? Lieber Gott, heilige Mutter Gottes, hatte sie in größter Not zum Himmel gerufen, aber hatte Pappi sie deswegen nicht mit brutaler Kraft vergewaltigt? Lag Gott etwas am Wohl und Wehe der Millionen Erdenbürger? War es nicht paradox zu glauben, daß er gerade ihre Not lindem würde? Es gab soviel Elend auf der Welt, wieso sollte er gerade ihr helfen? War nicht sowieso alles vorbestimmt? Kismet, wie die Mohammedaner sagen, das zugeteilte Schicksal gottergeben hinzunehmen. Dann war alles, was ihr bisher im Leben geschehen war, von vornherein vorbestimmt gewesen? Welchen Sinn hatte es, so zu leiden? Was hatte sie getan, um immer wieder die dunklen Seiten des Lebens zu erfahren? Wenn es sich sowieso nicht ändern ließ, war das einzige, worum sie beten konnte, daß Gott oder die Göttliche Macht — oder wer auch immer — ihr Kraft geben sollte. Genug Kraft, um das alles zu ertragen. Sie hatte einmal gelesen, daß niemand mehr Leid erfährt, als er ertragen kann. War ihre Leidensgrenze nicht langsam erreicht?
Sie wußte nicht, daß sie erst elf Jahre später sagen sollte: Ich will nicht mehr. Jetzt ist es genug.
“Gaby”, Hubert faßte sie sanft am Arm, “Dr. Wierda sagt, daß ich dich zur Station bringen soll.” Fürsorglich reichte er ihr seinen Arm. “Mach dir keine Gedanken, es wird schon alles werden.”
“Ich komme später noch zu Ihnen”, beruhigte sie ihr Arzt. “Dann besprechen wir alles weitere.”
“Ja”, sagte Gaby, “ja, natürlich.”
Wie eine Marionette folgte sie Hubert am Arm zu dem Fahrstuhl. Sie schloß die Augen und lehnte sich an die matt schimmernde Wand der Kabine. “Du mußt positiv denken”, ermahnte Hubert sie, während der Lift geräuschlos in den dritten Stock glitt, “du mußt nur daran glauben, daß alles gutgeht.” Daran glauben? Nein, sie glaubte nicht daran, daß sie das Baby noch retten konnte. Sie tat es, weil man es von ihr erwartete. Weil sie als Mutter doch um das Leben ihres Kindes kämpfen mußte. Aber sie fühlte, daß das Kind es aufgegeben hatte. Doch wie sollte sie das ausdrücken? Daß sie glaubte, daß das Kind nicht leben wollte? Vielleicht, weil es sie auch nicht als Mutter wollte? Oder weil es kein Leben wollte, das von Schmerz und Elend gezeichnet war? Weil es nicht genug Kraft hatte?
Wenn ich als Fötus gewußt hätte, wie mein Leben aussehen würde, hätte ich dann geboren werden wollen? Um der Momente willen, in denen ich glücklich war? Sie sah Hubert an. Wie sehr sie ihn liebte. “Ja”, sagte sie. “Ich glaube, daß alles gutgeht. Ich will daran glauben, daß alles gutgeht.” Und in Gedanken fügte sie hinzu: Was auch immer das bedeuten mag. Daß letzten Endes alles gutgeht. Daß ich die Kraft habe, alles zu einem guten Ende zu bringen.
Jean beugte sich über sie. Warum weint sie? dachte Gaby verschwommen. Als Krankenschwester wird sie doch schon öfter Frischoperierte gesehen haben. Sie versuchte zu lächeln. Nicht so schlimm, wollte sie sagen, aber ihre Kehle war rauh und trocken, und sie brachte nur ein Krächzen hervor. “Psst, ganz ruhig”, sagte Jean und strich ihr über die Stirn. “Jetzt ist ja alles gut.” Alles gut. Sie hatte wieder ihr Baby verloren. Es hatte keine Chance mehr gehabt. “Hubert?” flüsterte sie. “Ich habe ihn auf den Gang geschickt. Soll ich ihn rufen?” Sie nickte, befeuchtete nervös ihre Lippen.
Hubert sah blaß aus. Unsicher sah er erst zu Jean, bevor er an Gabys Bett trat und vorsichtig ihre Hand nahm. “Schöne Geschichten machst du”, sagte er, und sie sah, daß er bewegt war. “Wir haben uns solche Sorgen gemacht.” — “Sorry”, flüsterte Gaby und fragte sich, warum er sich auf einmal solche Sorgen gemacht hatte. Vor dem Eingriff hatte er ihr noch versichert, daß eine Ausschabung weniger gefährlich als eine Blinddarmoperation sei. Damit hatte er bestimmt recht.
Erst bei der Entlassung aus dem Krankenhaus hörte Gaby, daß sie nach dem Eingriff einen Kreislaufkollaps bekommen hatte. Wenn Jean nicht zufällig im richtigen Moment nach ihr gesehen hätte, wäre es vielleicht zu spät für sie gewesen. “Du hattest fast keinen Puls mehr. Ich habe mich furchtbar erschrocken. Ganz weiß und still lagst du da. So, als wolltest du dich klammheimlich auf und davon machen.” — “Keine schlechte Idee”, murmelte Gaby halblaut. “Was sagst du da?” Jean sah sie aufmerksam an. “Du wirst doch nicht depressiv, weil es
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