Zuckerpüppchen - Was danach geschah
Dabei hatte sie sich vor einer halben Stunde mit einem gemurmelten: “Ich habe Kopfschmerzen”, nach oben zurückgezogen. Erst hatte Gaby gedacht, daß sie nur hinausgegangen war, um frische Luft zu schnappen. Wegen der Kopfschmerzen. Aber es wurde später und später. Um drei Uhr hatte sie es nicht mehr aushalten können. Sie weckte Hubert. “Ich mache mir schreckliche Sorgen”, gestand sie ihm. “Sie wird doch nicht irgendeine Dummheit begehen? Ich bin überzeugt, daß Natalie nicht glücklich ist.” — “In ihrem Alter ist man nie glücklich.” Hubert hatte seinen Bademantel übergezogen und schenkte sich einen Genever ein. “Wahrscheinlich ist sie zu einer Freundin gefahren und wollte uns nur nicht beunruhigen.”
Wie ruhig er alles aufnahm. Da war ihre Tochter nachts verschwunden, und er verzog keine Miene. Gaby wußte nicht, ob sie ihn bewundern sollte. Natürlich hatte er recht, wenn er sagte, daß sie mit ihrer Aufregung auch nichts änderte. Aber begriff er denn nicht, was einem Mädchen alles passieren konnte?
“Weißt du, was dir hätte geschehen können, allein, ohne den Schutz deiner Eltern?” hatte der Polizist die dreizehnjährige Gaby gefragt, als sie nach ihrem fehlgeschlagenen Ausreißversuch auf der Polizeiwache verhört wurde. Ja, Gaby hatte es gewußt. Sie wußte auch, was sie zu Hause erwartete...
Aber was wußte Natalie? Wußte sie, wie gefährlich es für ein Mädchen nachts auf den Straßen war? Hatte sie als Mutter sie deutlich genug auf die Gefahren hingewiesen? Sie versuchte Natalie so gleichberechtigt wie möglich zu erziehen, aber die Umwelt setzte der freien Entfaltung Grenzen.
Als Frau fand sie es unberechtigt und lächerlich, daß ein Mädchen sich nicht so kleiden sollte, wie es selbst das schön fand. Warum sollte ein Mädchen nicht in knallengen Jeans herumlaufen? Warum sollte es nicht in einem flotten Mini seine hübschen Beine zeigen? Weil es aufreizend und provozierend auf Männer wirken konnte? Weil man damit “etwas” herausforderte? Als Frau hielt Gaby das für großen Unsinn. Kein Mann hatte das Recht, ein Mädchen anzumachen, nur weil es sich so kleidete, wie es ihm selbst gefiel. Aber als Mutter war sie schon froh, wenn Natalie sich an die Spielregeln hielt. Über die Kleidung ihrer Tochter brauchte sie sich keine Sorgen zu machen, wohl aber über ihre Blauäugigkeit, was die Gefahr um sie herum anging. “Ich will nicht, daß ihr mich von der Party abholt. Ich bin doch kein kleines Kind mehr”, hatte sie letztens gemeutert. “Gerade darum”, hatte Gaby darauf bestanden. “Ich möchte nicht, daß du nachts allein auf dem Fahrrad fährst. Nicht am Stadtpark entlang. Du weißt doch, daß da im Frühjahr ein Mädchen überfallen wurde?” Natalie hatte seufzend ihre Augen verdreht. “Den Täter haben sie gefaßt. Du tust ja gerade so, als wenn man als Frau dauernd auf der Hut sein muß.”
Gaby hatte ihre Tochter betroffen angesehen. War das wahr? Erzog sie Natalie so, daß sie kein Vertrauen zu Männern haben konnte? Sie wollte doch nur nicht, daß ihrem Kind etwas von dem geschah, das sie erlebt hatte. Nicht mit Gewalt. Mein Gott, wenn sie doch nur mit ihr darüber reden könnte! Wie schlimm das war. Und daß sie vorsichtig sein mußte. “Mütter sind doch alle gleich”, hatte Natalie gesagt. Der Satz hatte sie wieder ein wenig beruhigt. Vielleicht waren andere Mütter ebenfalls besorgt. Auch wenn sie nicht die gleichen Erfahrungen wie sie gemacht hatten. Sie hatte das Gefühl, als schipperte sie andauernd zwischen Überbesorgtheit und Großzügigkeit hin und her. Das Kind sollte tun und lasse können, wozu es Lust hatte. Aber geschehen sollte ihm nichts. Nichts gegen seinen Willen.
“Na also”, riß Hubert sie aus ihren Gedanken. “Da kommt die verlorene Tochter ja wieder.” Er wies zur Gartentür. Natalie blieb einen Moment erstarrt stehen, als sie Licht im Wohnzimmer brennen sah, dann gab sie sich einen Ruck. Sie blinzelte, als sie in die Küche kam. “Bloß keine Predigt”, ging sie sofort zum Angriff über. “Ich weiß, daß es nachts um vier Uhr ist. Man wird ja wohl noch einmal allein spazieren gehen dürfen?” Gaby sah sie an. Es war ihr nichts passiert. Ihre Kleider waren in Ordnung, ihr Haar nicht zerrauft, keine Spuren, die ihre — Gabys — Angst nährten.
“Mein Gott, wie siehst du denn aus”, hatte Mutti die dreizehnjährige Gaby angeschrien. “Deine Beine, alles voll Blut! Kommst hier herein wie abgestochen und sagst
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