Zuckerpüppchen - Was danach geschah
Wurzel herausschälte, schoß ihr das Wasser in die Augen. “Wir müssen den Kiefer noch saubermachen”, erklärte er ihr, nachdem er das letzte Wurzel Stückchen mit der Pinzette zu fassen bekommen hatte. Ich kann nicht mehr, dröhnte es in ihrem Kopf. Ich kann nicht mehr. Sie bäumte sich im Behandlungsstuhl auf. Die schneidenden Schmerzen ergriffen auch ihren Bauch. Sie fühlte Tränen ihren Hals hinunterrinnen. “Wir sind gleich fertig”, beruhigte sie der Arzt. “Sie dürfen mir glauben, so arbeite ich auch nicht gerne.” Irgendwann wird man ohnmächtig, schoß es Gaby durch den Kopf. Wenn man wirklich nicht mehr kann, wenn die Schmerzen unerträglich werden. War es ihrem Körper nie zuviel? War er gewöhnt, Schmerzen hinzunehmen? Sie fühlte erneut einen ziehenden Schmerz im Leib, langsam anschwellend. “Geht es jetzt wieder?” hörte sie die Stimme des Kieferchirurgen durch eine Nebelwand fragen. Gaby legte die Arme schützend über ihren Bauch. “Ich glaube, ich bekomme Wehen”, flüsterte sie.
Nach der Behandlung in der Kieferchirurgie fuhr Hubert sie nach Hause. “Vielleicht ist das nur die Aufregung gewesen”, hatte er sie beruhigt. “Du legst dich hin und ruhst dich aus. Und wenn die Kinder heute mittag kommen, hole ich Essen vom Chinesen.” Ach ja, die Kinder kommen. In ihrem Kopf hämmerte es, ihr Kiefer glühte, sie hatte Wehen, aber die Kinder kommen. Ein ruhiges Plätzchen, dachte sie, was würde ich geben für ein ruhiges Plätzchen. Sie konnte verstehen, warum sich verwundete Tiere ins Dickicht des Urwaldes zurückziehen. Schmerzen, das ist so etwas Intimes, sie wollte sie am liebsten alleine mit sich und ihrem Körper besiegen.
Im Laufe des Nachmittags, während sie Huberts Kinder und Daniel durch das Haus toben hörte, ließen die Wehen langsam nach. Das hatte der Notarzt der Universitätsklinik ihr am Telefon auch schon gesagt. “Die Wehen sind wahrscheinlich durch die Schmerzen der Kieferbehandlung in Gang gekommen. Aber wenn alles in Ordnung ist, klingen sie innerhalb der nächsten zwölf Stunden wieder ab. Anderenfalls möchte ich Sie morgen früh hier im Krankenhaus sehen.”
Abends spielte sie mit Hubert noch eine Partie Scrabble und fühlte sich seltsam ruhig und schwebend. Die Schmerzen in ihrem Kiefer klangen ab, ihr Baby bewegte sich normal, und sie war allein mit ihrem Mann. Eine Stunde, vielleicht auch eineinhalb Stunden, beschäftigte er sich während des Spiels nur mit ihr. “Hast du schon ganz ordentlich gelernt”, sagte er, als sie mit “sexy” auf den doppelten Wortwert kam. “Das bringt Punkte.” Er gewann dann doch, und sie fühlte sich entspannt und glücklich. “Wie hübsch du aussiehst”, sagte Hubert, “jetzt, wo die Schmerzen nachlassen, hast du ein ganz weiches Gesicht. Wie ein kleines Mädchen. Gehst du schon nach oben?” Er zog sie an sich, und sie fühlte seinen Körper. “Ich will dich haben. Ich komme gleich.”
Als sie am nächsten Morgen aufstand, sprang ihre Fruchtblase. Gaby wußte erst gar nicht, wie ihr geschah. Sie stand im Badezimmer und sah auf die Lache, die sich zwischen ihren Füßen bildete. Sie wusch sich vorsichtig und zog sich an. “Wir müssen ins Krankenhaus”, sagte sie zu Hubert, der im Wohnzimmer eine Tasse Tee trank. “Ich glaube, die Fruchtblase ist gesprungen.” Der Schreck in Huberts Gesicht tat ihr gut. Ließ ihn doch nicht al les kalt. “Und Wehen?” fragte er. Sie zog die Schultern hoch. “Nur so ein Ziehen im Bauch, ein eigenartiges Gefühl.”
Im Krankenhaus beruhigte man sie. Die Untersuchung bestätigte ihren Verdacht. Ja, die Fruchtblase war gesprungen, aber das hieß nicht unbedingt, daß das Kind auch jetzt geboren werden mußte. “Sie müssen wohl hier bei uns bleiben. Aber vielleicht können wir die Entbindung noch etwas hinausziehen. Sie sind im siebten Monat. Jeder Tag mehr, den das Kind in ihnen bleiben kann, ist ein Gewinn.” Gaby war ganz ruhig und zufrieden. Ein Zimmer im Krankenhaus für sie allein. Sie brauchte und durfte nichts anderes tun, als im Bett zu liegen und es sich gutgehen zu lassen. Niemand, der etwas von ihr wollte. Niemand, der etwas von ihr erwartete. Sie mußte nur stilliegen und ihr Kind bei sich behalten.
Nachdem auch die leichten Wehen wieder abklangen, fuhr Hubert nach Hause. “Ich komme morgen wieder”, beruhigte er sie. “Einer muß sich schließlich zu Hause um alles kümmern.” — “Bleib noch”, bat sie ihn. “Ich weiß nicht warum, aber ich habe
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