Zug der Traeume
Studenten kommen in meinen Seminarraum spaziert und erwarten Oden an den amerikanischen Staat. Wenn sie wieder hinausgehen, sind sie entsetzt über ihre Vorfahren und unfähig, eine Fahne zu schwenken oder am vierten Juli eine Parade zu verfolgen, ohne sie zu dekonstruieren.
Ein paar können mich deswegen nicht leiden, aber die Besten sind froh, dass ich ihnen die Augen geöffnet habe. Sie sitzen in meinem Büro und steigern sich in übersprudelnde Reden über Vorurteile und Missbrauch hinein und ereifern sich darüber, wie sehr die Lektüren, die ich ihnen aufgegeben habe, ihre Sicht der Dinge verändert haben.
Ich war früher auch mal so. Es ist jetzt kaum noch vorstellbar, doch diese Art von kritischem Idealismus war es, durch den ich überhaupt aufs Graduiertenkolleg kam. Heutzutage packe ich meinen Einkaufswagen mit abgepackter Babynahrung und staatlich subventionierter Milch voll, und es ist schwer geworden, sich darüber aufzuregen. Mein Kontostand und Joshs Windeln – mehr Sorgen kann ich nicht bewältigen.
Ich bin Dozentin für Amerikastudien an der Universität von Wisconsin – Green Bay, die dienstjüngste in einer katastrophalen Arbeitsmarktsituation. Ich bekam den Job drei Monate vor Josh. Ich war gerade dabei, Umzugskisten zu packen, als Paige gestorben ist und alles anders wurde.
Jetzt bin ich bereits das zweite Jahr in Green Bay, und es gefällt mir ganz gut. Es ist einer der Orte, wo die Leute nicht wegziehen, was bedeutet, ich werde eine Außenseiterin bleiben, selbst wenn ich hier bis zu meinem Tod wohnen bleibe. Was ich vielleicht tun werde. Es gibt erschreckend wenige Stellen in meinem Fachgebiet, und draußen auf dem freien Arbeitsmarkt hat es mir ganz und gar nicht gefallen. So viele Haie, die sich um so wenige Häppchen streiten.
Für meine Freunde bin ich Mandy, für meine Mutter Amanda, wenn sie mal anruft, was nicht oft vorkommt. Sie lebt in Oregon und betrauert Paiges Tod mit langen Phasen des Schweigens und einsamen Campingausflügen, die mich beunruhigen. Ich habe versucht, sie zu überreden, nach Wisconsin zu ziehen, damit wir uns gegenseitig zur Seite stehen und sie mir mit Josh helfen kann. Sie sagt, sie braucht die Ruhe und die High Desert, um ihre Wunden zu heilen.
Josh nennt mich Mama, das ist mein Lieblingsname. Ich liebe den Jungen so abgöttisch, dass es mir Angst macht. Als ich einmal darüber nachdachte, was wäre, wenn er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben käme, krank oder missbraucht würde, musste ich mich übergeben.
Aber ein Baby ist wie ein böser Freund. Josh kann mich im einen Moment küssen und mir im nächsten mit einem scharfkantigen Bauklotz ins Gesicht schlagen. Wenn er sprechen könnte, würde er sagen:
Ich brauche dich, Mama. Ich brauche dich so sehr.
Es laugt mich aus, gebraucht zu werden.
Lisa nennt mich eine Märtyrerin und sagt, ich soll aufhören, alle anderen zu retten, und mich um mich selbst kümmern.
Keine Angst
, antworte ich ihr.
Das
tu ich.
Aber das stimmt nicht ganz. Eine Nacht pro Monat darf sich jemand anders um mich kümmern.
2
Nachdem Rocky mich ordentlich befleckt hat, hilft er mir auf das Dach des Waggons, und wir blicken in die Sterne.
Seine Idee. Er hat immer die besten Ideen.
Praktisch gibt es natürlich keine Sterne. Der Pullman-Wagen steht drinnen. Aber der Zug ist echt, unnachgiebig unter meinem Rücken. Und Rocky ist auch echt, hält meine Hand und atmet neben mir in der Dunkelheit. Es ist nicht schwer, es sich vorzustellen.
Wenn ich mit ihm zusammen bin, kann alles wahr werden.
»Hast du schon mal gedacht, dass du in ein falsches Leben geboren wurdest?«, frage ich.
Es ist nicht einfach so dahergesagt. Unsere Rollenspiele haben all diese anderen Versionen von mir an die Oberfläche gebracht. Ein paar davon fallen mir so leicht und fühlen sich so real an, dass ich mich frage, ob es authentische Echos der Person sind, die ich eigentlich sein sollte.
Ich mag die Frauen, die ich bei ihm bin.
»Ob ich reich sein will, meinst du?«
»Nicht unbedingt reich. Einfach jemand anders.«
Vielleicht ist es eine merkwürdige Frage. Vielleicht denken Gepäckträger wie Rocky nicht über so was nach. Aber er ist nicht immer Rocky. Letzten Monat war er ein Staubsaugervertreter aus Spokane. Den Monat davor ein Investmentmakler.
Jeden vierten Dienstagabend sind wir beide jemand anders.
Er rollt sich auf die Seite und beugt sich zu mir, um meine Schläfe zu küssen. Ich schließe flatternd die Augenlider. »Jeden Tag.«
»Wer
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