Zuhause ist ueberall
österreichischen Akzent ist sie nie losgeworden, und zu wirklicher Popularität bei den Leuten hat sie es deshalb, zum Unterschied von ihrem vulkanischen Ehemann, auch nicht gebracht. Sie erzählt, wie das war, als sie als frischvermählte Ehefrau bei einem Lehrer Tschechisch lernte. Es ging um die Bezeichnungen für die einzelnen Berufe, Fassbinder etwa oder Arzt. »Bednář« und »lékař«, ausgesprochen bednarsch und lekarsch. Wie kann man nur auf solche Wörter kommen? Wahnsinnig peinlich, so was auszusprechen. Großmama schüttelt sich noch heute, wenn sie sich an diese Tschechischstunden erinnert.
Ihr Zimmer ist sonnig und voll mit schönen Sachen. Das Schönste ist eine Spieluhr. Unter einer Glasglocke dreht sich eine kleine Schäferin im Kreise, um sie herum trotten die Schäfchen, und dazu spielt eine kleine Musik. Leider nur zur vollen Stunde. Ich könnte der Schäferin und den Schäfchen stundenlang zuschauen. Aber Großmama hat auch ein Regal mit Kinderbüchern für uns, aus denen sie mir vorliest. Altmodische Geschichten von braven Kindern, bezaubernd illustriert, in Frakturschrift gedruckt.
Gern erzählt sie von ihrer Internatszeit im Wiener Sacre Coeur. Sie hat sie in guter Erinnerung, auch wenn man beim Baden, der Schicklichkeit wegen, ein langes Leinenhemd tragen musste. Dafür spielte man an den großen Feiertagen »cache cache«, also Verstecken, im ganzen Haus, die »mères«, die Nonnen, in ihren Rüschenhäubchen immer mit dabei. Man sprach den ganzen Tag Französisch. Die besten Schülerinnen bekamen ein »ruban bleu«, ein blaues Band, und die größte Ehre war, zum »enfant de Marie«, also zum Marienkind, ernannt zu werden. Ich bin normalerweise nicht so fürs Bravsein, aber ich liebe diese Geschichten. Es ist wie ein Blick in eine heile, unschuldige, ungemein beruhigende Welt, in der alle gut und lieb und klug sind und nichts Schlimmes hereindarf.
Zu Weihnachten und zu Großpapas Geburtstag wird Theater gespielt. Großmama schreibt die Texte. Großpapa spielt abends öfters mit Mita, dem Kaplan, Schach, und Großmama hat dazu einen kleinen Sketch gedichtet, in dem Hans Heinrich und Jakob die Schachkönige darstellen. »Kommst du wieder angeschlichen, wo ich dir doch ausgewichen …« Eines Heiligen Abends spielen wir ein Krippenspiel. Ich bin, eingehüllt in einen blauen Schal, die Muttergottes und Michi, nackt mit Lendentuch in einer heugefüllten Krippe, das Jesulein. Aber das Heu piekst, und mitten im Stück steht das Jesulein plötzlich auf und läuft davon. Schluss der Vorstellung.
Im Sommer sind oft mehrere Enkel da, außer uns auch noch die Kinder von Mamis drei Geschwistern. Insgesamt sind es fünfzehn. 1936, dem Jahr der Berliner Olympiade, die damals für Gesprächsstoff sorgt, läuft Großmama zu großer Form auf. Ich bin erst vier, darf aber auch mitspielen. Es gibt Medaillen in allen Disziplinen, und auf der Einladung steht: »In Breznitz, da gibt’s eine Olympiade / rümpft nicht die Nase und sagt, wie fade / denn, au contraire, es wird sehr heiter, / ist Tante Willy doch ihr Leiter.« Und in einem anderen Jahr tragen zwei Indianerstämme, die Buben und die Mädchen, mit Federkronen auf dem Kopf und mit Tomahawks bewaffnet im sogenannten Tiergarten ihre Kämpfe aus. Unsere Mädchen-Stammeshymne geht so: »Wir sind die schlauen Sanger im versteckten Wald, / wir machen durch die Schlauheit alle Stämme kalt, / wir schleichen am Boden und lauern bei Tag und Nacht, / Falkenauge wacht.« Falkenauge ist die älteste Cousine, Marimine. Sie ist unser Häuptling.
Der Tiergarten ist ein weitläufiger Park, eigentlich ein Wald, in dem Damwild gehalten wird. Es ist ein herrliches Terrain zum Spielen. Uralte Eichen wachsen hier, aber auch Buchen und Linden und Kastanien. Wir sammeln die Eicheln und Kastanien und machen daraus Tiere, mit Zahnstochern als Beinen. Irgendwo im Tiergarten liegen drei große Steine, die wie Throne aussehen und zu denen man sich unheimliche Geschichten von Waldkönigen und Elfentribunalen ausdenken kann. Mittendrin steht das »grüne Bankerl«, bevorzugtes Ziel für Spaziergänge mit den Eltern oder mit dem Fräulein. Hinter den Baumkronen sieht man den Schornstein der Brauerei, die auch zur Breznitzer Herrschaft gehört. Fast jedes größere Dorf in Böhmen braut damals noch sein eigenes Bier. Die Schlote sind ebenso Teil der Dorfsilhouette wie die Kirchtürme.
Schloss und Park liegen mitten in der hügeligen südböhmischen Landschaft, die für mich
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