Zum ersten Mal verliebt
dasselbe.« Rilla musste sich immer wieder unterbrechen, um nicht laut in Tränen auszubrechen. »Ich hänge an Jem, natürlich. Aber als er ging, da haben wir gedacht, der Krieg wäre bald vorbei. Und du - du bedeutest mir alles, Walter!«
»Du musst tapfer sein, um mir zu helfen, Rilla-meine-Rilla. Ich bin ganz aus dem Häuschen heute Abend, trunken vor Freude darüber, dass ich mich selbst besiegt habe. Aber es werden Zeiten kommen, da wird es nicht mehr so sein. Dann werde ich deine Hilfe brauchen.«
»Wann - wann gehst du?« Rilla wollte das Schlimmste lieber gleich wissen.
»Erst in einer Woche. Dann gehen wir nach Kingsport zum Training. Ich denke, es wird Mitte Juli werden, bis wir nach Übersee gehen. Wir wissen es noch nicht.«
Eine Woche. Nur noch eine Woche mit Walter zusammen! Rilla konnte sich nicht vorstellen, wie das Leben ohne ihn weitergehen sollte.
Als sie das Tor von Ingleside hinter sich schlossen, blieb Walter im Schatten der alten Pinien stehen und zog Rilla nah zu sich heran.
»Rilla-meine-Rilla, es hat in Belgien und Flandern Mädchen gegeben, die genauso süß und unschuldig waren wie du. Wie ihr Schicksal ausgesehen hat, das weißt sogar du. Wir müssen dafür sorgen, dass solche Dinge nie wieder passieren können auf dieser Welt. Du wirst mir dabei helfen, ja?« »Ich will es versuchen, Walter«, sagte sie. »Ja, ich werde es versuchen.«
Und wie sie so ihr Gesicht fest an seine Schulter drückte, da wusste sie, dass es sein musste. Sie akzeptierte es ohne Wenn und Aber. Er musste gehen, ihr geliebter Walter mit seiner sensiblen Seele, mit seinen Träumen und Idealen. Die ganze Zeit über hatte sie gewusst, dass es früher oder später so kommen würde. Sie hatte es auf sich zukommen sehen. Näher, immer näher, so wie man den Schatten einer Wolke über einem sonnigen Feld herannahen sieht, rasch und unabwendbar. Mitten in ihrem Schmerz tauchte an einer versteckten Stelle ihrer Seele ein Gefühl der Erleichterung auf, dort, wo den ganzen Winter über ein undeutliches, uneingestandenes Gefühl der Kränkung gelauert hatte. Niemand, aber auch niemand hatte jetzt noch Grund, Walter einen Drückeberger zu nennen.
In dieser Nacht fand Rilla keinen Schlaf. Vielleicht ging es jedem in Ingleside so, außer Jims. Der Körper wächst langsam und stetig, aber die Seele wächst sprunghaft und unvermittelt. Es kann passieren, dass sie innerhalb einer Stunde ihre volle Größe erreicht. Von dieser Nacht an war Rilla Blythes Seele die Seele einer Frau, so viel Leid konnte sie ertragen.
Als die traurige Morgendämmerung hereinbrach, stand sie auf und ging zu ihrem Fenster. Unterhalb von ihr stand ein großer Apfelbaum wie ein von rosaroten Blüten überquellender Kegel. Walter hatte ihn Vorjahren gepflanzt, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Jenseits des Regenbogentals sah man das bewölkte Ufer des Morgens, an dem sich der Sonnenschein in kleinen Wellen brach. Hoch oben schimmerte noch ein Stern, kalt und schön. Warum mussten ausgerechnet in dieser lieblichen Weite des Frühlings Herzen brechen?
Rilla spürte, wie sich zwei Arme liebevoll und beschützend um sie legten. Es war Anne, blass und mit großen Augen. »Ach, Mutter, wie kannst du das ertragen?«, rief Rilla und brach in Tränen aus.
»Rilla, Liebes, ich weiß schon seit Tagen, dass Walter vorhat zu gehen. Ich habe Zeit gehabt, zu rebellieren und mich langsam damit abzufinden. Wir müssen ihn gehen lassen. Es gibt einen Ruf, der stärker und eindringlicher ist als der Ruf unserer Liebe, und er hat darauf gehört. Dieses Opfer ist schon schmerzlich genug für ihn, wir sollten es nicht noch verschlimmern.«
»Unser Opfer ist größer als seines«, rief Rilla verzweifelt. »Unsere Jungen opfern nur sich selbst. Aber wir opfern sie.«
Noch ehe Anne antworten konnte, steckte Susan den Kopf zur Tür herein, die von übertriebenen Anstandsregeln wie Anklopfen nichts hielt. Ihre Augen waren verdächtig rot, aber sie sagte nur: »Soll ich Ihnen das Frühstück heraufbringen, liebe Frau Doktor?«
»Nein, nein, Susan. Wir kommen gleich alle hinunter. Hast du gewusst, dass - dass Walter sich gemeldet hat?«
»Ja, liebe Frau Doktor. Der Doktor hat es mir gestern Abend gesagt. Der Allmächtige wird seine Gründe haben, warum er so was erlaubt. Wir müssen uns eben fügen und versuchen die gute Seite daran zu sehen. Immerhin wird er vielleicht dann davon abkommen, ein Dichter zu werden, und das wäre doch was.« Für Susan waren Dichter
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