Zum ersten Mal verliebt
und Landstreicher immer noch ein und dasselbe. »Aber Gott sei Dank«, fügte sie etwas gedämpfter hinzu, »Gott sei Dank ist Shirley noch nicht alt genug.«
»Aber ist das nicht dasselbe, als wenn wir Gott dafür danken würden, dass der Sohn einer anderen Frau an Shirleys Stelle gehen muss?«, fragte Gilbert, der gerade heraufkam und an der Tür stehen blieb.
»Nein, das ist es nicht, lieber Doktor«, sagte Susan trotzig, während sie Jims hochhob, der gerade seine großen dunklen Augen öffnete und seine kleinen Fländchen ausstreckte. »Sie sollten mir nicht Worte in den Mund legen, die mir nie im Traum eingefallen wären. Ich bin nur eine einfache Frau und kann nicht so gut argumentieren wie Sie, aber eins steht fest, ich danke Gott nicht dafür, dass er jeden schickt. Ich weiß nur, dass sie wohl gehen müssen, wenn wir uns nicht alle kaiserisieren lassen wollen. Auf die Monroe-Doktrin, was immer das auch ist, können wir uns jedenfalls nicht verlassen, schon gar nicht, wenn Woodrow Wilson dahinter steckt. Die Hunnen lassen sich bestimmt nicht durch Berichterstattungen zur Rechenschaft ziehen, lieber Doktor. Und jetzt«, schloss Susan, während sie Jims im Armwinkel verstaute und nach unten marschierte, »nachdem ich mich ausgeweint und meine Meinung gesagt habe, werde ich mich zusammenreißen und versuchen ein fröhliches Gesicht zu machen, auch wenn es mir schwer fällt.«
Ein schwerer Abschied
»Die Deutschen haben Przemysl zurückerobert«, sagte Susan verbittert und sah von ihrer Zeitung auf. »Jetzt werden wir es wohl wieder bei diesem unzivilisierten Namen nennen müssen. Cousine Sophia war gerade da, als die Post kam, liebe Frau Doktor, und als sie die Neuigkeit hörte, seufzte sie aus tiefster Seele und sagte: >Soso, und als Nächstes ist bestimmt Petrograd dran.< Da habe ich zu ihr gesagt: >Leider ist es mit meinen Geografiekenntnissen nicht weit her, aber ich könnte mir vorstellen, dass es von Przemysl bis Petrograd ein ganz schön langer Spaziergang ist.< Cousine Sophia seufzte wieder und sagte: >Der Großherzog Nicholas ist auch nicht gerade der Mann, für den ich ihn gehalten habe.< >Lass ihn das bloß nicht hören<, sagte ich. >Er könnte sich getroffen fühlen und er hat doch schon genug Ärger am Hals.< Aber Cousine Sophia lässt sich einfach nicht aufmuntern, liebe Frau Doktor, da kann man noch so sarkastisch sein. Sie seufzte zum dritten Mal und knurrte: >Dass die Russen sich aber auch so schnell zurückziehen.< Und ich sagte: >Na und? Schließlich haben sie Platz genug, um sich zurückzuziehen, oder?< Wie dem auch sei, liebe Frau Doktor, die Lage an der Ostfront gefällt mir überhaupt nicht, auch wenn ich das vor Cousine Sophia nie zugeben würde.«
Die Lage gefiel den anderen genauso wenig. Aber der Rückzug der Russen zog sich den ganzen Sommer hin - es war eine Marter ohne Ende.
»Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie es ist, der Post gelassen entgegenzusehen, geschweige denn mit Freuden«, sagte Gertrude Oliver. »Der Gedanke, der mich Tag und Nacht verfolgt, ist, ob die Deutschen wohl Russland vernichtend schlagen und dann im Siegeseifer ihre Armee im Osten gegen die westliche Front werfen.«
»Das werden sie nicht tun, liebe Miss Oliver«, sagte Susan in weiser Voraussicht. »Erstens wird der Allmächtige das nicht zulassen, und zweitens weiß Großherzog Nicholas - auch wenn er in mancher Hinsicht für uns eine Enttäuschung gewesen ist -, wie man anständig davonläuft, und das ist viel wert, wenn man von den Deutschen verfolgt wird. Norman Douglas behauptet ja, dass er sie nur anlocken will, um sie dann zehn zu eins umzubringen. Aber ich bin der Meinung, er weiß sich selber nicht zu helfen und tut nur, was er kann unter den gegebenen Umständen, genau wie wir auch. Sie sollten sich also lieber keine unnötigen Sorgen mehr machen, liebe Miss Oliver, wenn wir sowieso schon genug um die Ohren haben.«
Walter war am ersten Juni nach Kingsport aufgebrochen. Nan, Di und Faith waren ebenfalls gegangen, um während der Ferien fürs Rote Kreuz zu arbeiten. Mitte Juli kam Walter noch einmal für eine Woche nach Hause, bevor es nach Übersee ging. Rilla hatte diese letzte Woche kaum erwarten können, und jetzt kostete sie jede Minute aus und hasste die Stunden, die sie mit Schlafen verbringen musste. Sie waren für sie reine Zeitverschwendung. Trotz aller Traurigkeit wurde es eine schöne Woche. Es waren bewegende, unvergessliche Stunden, die sie mit langen Spaziergängen und
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