Zungenkuesse mit Hyaenen
formulierte.
Der Artikel erwähnte den Autounfall vor 30 Jahren, durch den der Erfolgsproduzent querschnittsgelähmt sei, sowie eine erstaunliche Karriere, die ihm dennoch geglückt sei. Auf dem Foto hielt er einen hochhackigen Frauenschuh in der einen Hand, eine Champagnerflasche in der anderen, und lachte. Er strahlte wie ein Götterliebling. Aber wie konnte ein Gelähmter Freude haben? Ich dachte an das fluchende Krückenmädchen, das ich im Lift getroffen hatte. Hatte siejemals Freude? Müller hatte ja immerhin eine Lebensleistung vorzuweisen. Der war jemand. Er hatte Filme produziert, deren Titel mir durchaus geläufig waren, einige davon hatte ich sogar zusammen mit Mutter im Kino gesehen.
Wie gern ich einen solchen Vater gehabt hätte! Er hätte mich mit zum Set genommen, mir junge Schauspielerinnen vorgestellt, mir überhaupt die Sache mit den Frauen erklärt. Vielleicht hätte er mir zum 18. Geburtstag einen Puffbesuch geschenkt wie die Mafiosi im Film. Wir hätten gemeinsam Champagner aus Stöckelschuhen getrunken. All diese männliche Energie, die plötzlich in meinem Leben war, Big Ben, Erfolgsproduzent Müller, Klarhabbisch, David. Von meinem Vater war nie sehr viel männliche Energie ausgegangen. Er war ein Duckmäuser gewesen, der Kissen bestickte. Mutter war der einzige Mann im Haus. Eine Flöte mein Vater, eine Pauke meine Mutter, das war die Besetzung in meinem Elternhaus, jedenfalls bis zu Vaters Tod. Die genetischen Sachen waren fifty-fifty. Von Mutter hatte ich die Weltsicht, von Vater die Allergien. Es war nicht er, es war sie gewesen, die mir die Welt gezeigt, die mir Grenzen gesetzt hatte. Alles, was ich wusste, wusste ich von ihr. Und alles, was ich nicht wusste, hatte sie mir vorenthalten.
Ich war nun bleiern müde und riss die Artikel »Erfolgsproduzent Müller – Er kommt durch!«, »Müller & Müller in Dingenskirchen – war ein Dritter im Spiel?« und »Die Rote Müllerin – wer erbt?« mehr oder weniger mechanisch heraus.
Nur der letzte Artikel erregte noch einmal meine Aufmerksamkeit. Er war mit einem Privatfoto der Roten Müllerin illustriert, was ihm etwas Inoffizielles verlieh. Sie stand zwischen zwei Frauen, denen sie mit den Fingern Hasenohren machte. Darunter stand: »Schwarz-Rot-Gold: Bestsellerautorin Felicitas Müller (Mitte) mit ihren besten Freundinnen Hanna (links) und Veronika«. Ich löschte das Licht und glitt in einen Traum, in dem Felicitas Müller eine nicht ganz jugendfreie Rolle spielte. Sie war nackt, nur mit meinem roten Strickschal und Pumps bekleidet, aus deren linkem ich später (»Naa, Schönheit?«) Champagner trinken würde. Den restlichen Champagner ließ sie an ihrem nackten Bein hinablaufen und steckte mir ihren Fuß in den Mund, wie es Salma Hayek in »From Dusk till Dawn« bei Quentin Tarantino macht.
Ich nuckelte also Champagner vom schlanken großen Zeh der Müllerin, so lange, bis ich erwachte und mich ins Bettzeug der Müllerin ergossen hatte. Verschämt, unter dem sibyllinischen Blick der an die Wand gepinnten Roten Müllerin, deren grüne Augen mich gewaltsam in ihren Kopf hineinziehen wollten, trug ich das Laken ins Bad, wusch es aus, hing es zum Trocknen über die Tür und ließ mir ein heißes Bad ein.
Danach legte ich mich auf die nackte Matratze, wickelte mich fest in den Menschenduft des gebrauchten Deckbetts ein und schlief, immer noch den Abdruck des Zehs im Mund, ein.
HURE BABYLON
Der linke Arm tat mir weh, als ich erwachte. Mein Zeigefinger, den ich mir vortags am Reinigungsschild meines grauen Anzuges verletzt hatte, schmerzte und war so angeschwollen, dass ich ihn nicht mehr krümmen konnte. Mutter hatte recht daran getan, mich vor der großen Stadt zu warnen. Ich war kaum hier und schon verstrickt, rettungslos verstrickt. Vielleicht war ich sogar vergiftet. Die Hure Babylon ritt mich bereits.
Wer hatte mit wem zu tun? Ich nahm eine übriggebliebene Serviette, malte in die Mitte mit Kuli einen Kringel und schrieb »Ich« hinein. In die linke obere Ecke des Blattes schrieb ich nach demselben Muster »Mutter«, in die rechte »Frau Puvogel«, in die linkeuntere »Müller«, in die rechte »Müllerin«, zwischen »Mutter« und »Müller« schrieb ich »Big Ben«. Auch David und das Krückenmädchen schrieb ich auf das Blatt. Nun verband ich mit Linien alle eingekreisten Namen, die miteinander zu tun hatten, die Müllerin mit Müller, Müller mit Big Ben, Big Ben mit Mutter, Mutter mit mir, mich mit Frau Puvogel, und pinnte das
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