Zungenkuesse mit Hyaenen
reflexlos in den Tod über. Der inzwischen aus dem Krankenhaus entlassene Erfolgsproduzent sei noch nicht vernehmungsfähig. Ich notierte »Groß- und Kleintiere« und schrieb den Satz mit den Exzitationen komplett ab. Thomas Mann hatte in seinen Tagebüchern über Exzitationen geklagt, daher kannte ich das Wort und konnte ableiten, dass es sich um Krämpfe handelte. Meine Kladde gefiel mir ausnehmend gut. Noch war sie neu, aber auf bestem Wege, zerknickt und vollgekritzelt zu werden. Und dann warte, Rizz, warte!
Der Erfolgsproduzent war die Schlüsselfigur. Wenn ich ein Reporter sein wollte, musste ich zu ihm. Wenn ich ein erfolgreicher Reporter sein wollte, musste ich ein Exklusivinterview mit ihm haben. Aber er war jetzt sicher von Journalisten umlagert und von Vertrauten abgeschottet. Wie würde ich an ihn rankommen? Wie ging das in Filmen? Verkleidet als Gärtner, als Klempner, als Arzt? Ich fühlte den Blick der Roten Müllerin auf mir wie einen Laserstrahl und erwog zu onanieren.
IN DIE HOSE
Zwei verpasste Anrufe: einmal »Mutter«, einmal »Mutter mobil«. Ich hatte sie für einen Moment völlig vergessen! War das je zuvor passiert, dass ich Mutter vergessen hatte? Aber wie hätte ich sie zuvor je vergessen können, wenn ich sie doch jeden Tag sah? Mein Aufbruch nach Rizz war der Verzweiflung geschuldet, er war mein letzter Ausweg gewesen, ein eigener Mensch zu werden, ein Mensch mit Erfahrungen, Abneigungen, Ansichten. Jetzt also war es so weit, das erste Telefonat stand an. Eine furchtbare Angst erfasste mich, sie saß in meinem Bauch und griff mit spitzen Fingern in meine Eingeweide. Ich musste mich ihr stellen. Wenn ich erwachsen sein wollte, musste ich mich ihr stellen. Mutter würde vielleicht auflegen. Sie würde vielleicht schweigen. Sie würde vielleicht schimpfen und fragen, höchstwahrscheinlich würde sie weinen. Das wäre das Schlimmste. Zitternd tippte ich Kurzwahl 1. Ich war ihr Sohn, ich wollte, dass sie mir verzeiht, mir Mut zuspricht, mir Hilfe zusagt. Aber ich hatte sie verlassen. Und nun wie weiter? Mutter und mein neues Leben – zwei schwer zu vereinbarende Tatsachen.
»Mutter«, rief ich.
»Warum schreist du denn so?«
Mutters tiefe Stimme, ich hörte sie gern, sie rief die angenehmsten Gefühle in mir wach, Ruhe ergriff mich, durch die Nabelschnur floss Blut, alles war gut.
»Ich schreie doch gar nicht.«
»Ist da jemand bei dir?«
»Nein, ich bin – ich bin ...«
»Da ist doch jemand! Ich hör doch wen!«
»Wer soll denn – ach Mutter! Hier ist niemand.«
»Hier ist auch niemand.«
Da war er, der Vorwurf.
»Ich hab mit Onkel Ben telefoniert«, sagte Mutter. »Ich bin im Bilde.«
»Es geht ihm bestens. Er lässt dich grüßen.«
»Ich weiß! Du wohnst in einem Wolkenkratzer zweifelhaften Rufs. Ich hoffe, du hast dir das gut überlegt.«
Ich sprudelte über, wie lang und wie gut ich mir das überlegt hätte, ich versprach ihr das Blaue vom Himmel, Ruhm und Reichtum, ich würde ihr das gestohlene – das geliehene Geld zurückzahlen, ich würde ihr ein Haus in Rizz kaufen, sie nachholen, und dann wären wir zusammen, wie früher, bis ans Ende unserer Tage.
»Adresse?«, fragte sie kalt, als mein Wortschwall versiegt war.
Ich nannte die Adresse, blieb aber die Postleitzahl schuldig. Mutters staccatoartige Fragen nach Arbeit und Mietvertrag konnte ich bejahen, ohne ins Detail zu gehen. Sie war ja ohnehin »im Bilde«. Unterm Vorwand einer schlechten Funkverbindung verschliff ich genauere Auskünfte, streifte aber, da der Hunger über den Stolz siegte, meinen finanziellen Engpass. Mutter kommentierte meinen Diebstahl mit keinem Wort, in diesen Dingen hatte sie Größe, und fragte nach der neuen Kontonummer. Ich diktierte sie fast schreiend.
Mutter war merkwürdig ruhig. Sie gab mir ein Update der Grimmelshausener Neuigkeiten (Bankdirektor Haasis wolle sich scheiden lassen, und die in Erpenbach gut verheiratete Tochter von Frau Backenbeck erwarte ihr erstes Kind). Obwohl ich sie schmählich verlassen und überdies eben angepumpt hatte, schien Mutter halbwegs guter Stimmung zu sein. Allerdings blieb sie skeptisch: »Das wird, mit Verlaub, in die Hose gehen.«
Ich würde Mutter Lügen strafen. Sie würde stolz auf mich sein. Am Ende würde sie stolz auf mich sein. Sicher wäre ich ein Gewinn für den Mittagskurier . Dass ich schreiben konnte, war ja unbestritten. Auf dem Gymnasium hatte man mich als Formuliertalent gehandelt, streckenweise sogar als Dichtergenie. Meine
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