Zungenkuesse mit Hyaenen
Stärke war das Narrative.Ich war phantasiebegabt von Kindesbeinen an. Als Jugendlicher hatte ich erotische Geschichten geschrieben, für die mich meine Mutter übers Knie zu legen pflegte. Mutter hatte zu Zwecken der Erziehung stets den Rohrstock eingesetzt. Ihr rutschte nicht die Hand aus wie anderen Müttern. Ihre Züchtigungen wurden vorher angekündigt. Grund der Erziehungsmaßnahme, Uhrzeit, Anzahl der Hiebe.
Der tiefere Sinn planvoller Bestrafung, mich nämlich gefügig zu machen, verfehlte seinen Zweck. Ich genoss heimlich die Rituale, ja, ich fieberte nahezu der nächsten Züchtigung entgegen. Nicht selten geschah es, dass ich sie regelrecht herbeiführte. Da ich aber tatsächlich ein guter Junge war, fiel mir der Ungehorsam nicht leicht.
»Man muss sich zwingen«, hatte Mutter mich gelehrt. Also zwang ich mich. Ich erschien nicht zum Abendessen, vernachlässigte meine häuslichen Pflichten und ließ ebenjene selbstverfassten Geschichten offen herumliegen. Es ging um untreue Ehefrauen, frivole Verkäuferinnen, Lehrerinnen in Lackstiefeln. Die Geschichten entbehrten jeglicher Erfahrungsgrundlage, in Liebesdingen war ich gänzlich unbedarft, aber hatte Karl May jemals Indianer gesehen? Musste man ein Wal sein, um Moby Dick zu schreiben?
Vorsichtig, meinen geschwollenen Finger schonend, hielt ich das Zeitungsfoto, auf dem die Rote Müllerin mit ihren besten Freundinnen abgebildet war. Hanna war eine dicke, kämpferische Brillenträgerin, Veronika eine Paris Hilton. Schon als kleiner Junge war mir zu jeder Person, die ich sah, eine Geschichte eingefallen. In wenigen Sätzen vermochte ich sie zu skizzieren. Der Fluch der Schönheit, der den ablehnenden schnippischen Zug in Veronikas Gesicht gebracht hatte, und Hannas Ingrimm hinter der Brille, dazwischen elfengleich die Müllerin: Ich hätte die Löwe-Luchs-Liaison aus dem Stand entwerfen können, ohne auch nur einen Pfennig Spesen zu machen.
SCHMOCK
Herr Müller ist ein gefährlicher Mann. Das sieht man an der Art, wie er einen Apfel isst. Er nimmt ihn in die hohle Hand und beißt ihn tot. Mit wenigen, riesigen Bissen verschlingt er ihn total. Dann spuckt er den Stiel aus. Dabei heftet sich sein Blick auf die Müllerin, die halbnackt herumläuft und telefoniert. Er versucht aufzuschnappen, was sie sagt. Es ist eine Freundin, aber welche? Herr Müller hat zwei ihrer Freundinnen kennengelernt, eine schöne, mit der er gern mal vögeln würde, und eine hässliche. Zu Müllers Verwunderung behandelt sie die beiden vollkommen gleich. Sie tröstet die schöne, wenn sie Liebeskummer hat, und macht sich Gedanken um den beruflichen Werdegang der hässlichen. Oder umgekehrt. Sie scheint ebenso viel Zeit mit der Hässlichen zu verbringen wie mit der Schönen, ja, sie hält offenbar die hässliche für einen genauso wertvollen Menschen – ein Umstand, der Müller befremdet.
»Innere Werte«, das ist doch eine Erfindung linker Esoteriker! Und sollte es sie geben, wer würde freiwillig in die Seele einer hässlichen und überdies fetten Frau hineintauchen wollen? Für ihn ist es schon eine Zumutung, in ihr Gesicht zu schauen, vom Rest ganz zu schweigen.
»Du bist ein Schmock«, sagt die Müllerin und erzählt ihm die Geschichte vom Adonis, der vorm Kino wartet. Viele hübsche Mädchen nähern sich, aber er nimmt sie nicht wahr, sehnsüchtig starrt er die Straße hinunter. Da endlich steuert eine Frau auf ihn zu. Grobschlächtig, mit fettigen Haaren, in schlechten Kleidern, mit X-Beinen. Der Schönling schmilzt bei ihrem Anblick dahin. Sie küssen sich innig und gehen Hand in Hand in das Kino hinein. Müller winkt ab. Die Geschichte kennt er, die hat sie schon oft erzählt. Mal spielt sie in Berlin, mal in New York, mal in Rizz. Es ist eineerzieherische Geschichte, ein Appell an innere Werte, vollkommen verschwendet an Müller. Er zeigt ihr den Vogel.
»Immer machst du aus allem Literatur!«, sagt er. »In einem deiner angepassten, langweiligen, politisch korrekten Drehbücher würde das passieren, aber nicht im wahren Leben. Weißt du, wie es im wahren Leben zugeht? Freud zu Jung: Wie halten Sie es bloß mit dieser phänomenal hässlichen Patientin aus? Das ist die Wahrheit! So sieht die Wahrheit aus!«
Die Müllerin schwingt sich im Schneidersitz auf den Eichentisch, zündet sich eine Zigarette an und bläst Müller den Rauch ins Gesicht. »Nicht alle Kerle sind so eindimensional wie Freud und du.« Sie legt den nackten Fuß auf seine Brust und wippt, so dass
Weitere Kostenlose Bücher