Zur Leidenschaft verfuehrt
zu versetzen?
6. KAPITEL
Florenz und Raphael! Sie würde mit Raphael nach Florenz fahren! Ob das wirklich so eine gute Idee war? Aber hatte sie denn überhaupt eine Wahl? Ein Schauer, halb Angst, halb freudige Erwartung, rieselte ihr über den Rücken und machte alle ihre guten Vorsätze zunichte. Warum konnte sie ihrem Körper bloß nicht endlich begreiflich machen, wie demütigend es war, einen Mann zu begehren, der ihr unmissverständlich zu verstehen gab, dass er sich keinen Deut für sie interessierte? Raphael wollte sie nicht in seinem Leben, geschweige denn in seinem Bett. Als eine Welle heißen Verlangens über sie hinwegschwappte, stockte ihr der Atem. Was sollte Raphael an einer Frau wie ihr auch finden, an einer Frau, die weder schön noch elegant war, ohne jede sexuelle Erfahrung oder auch nur einer Ahnung, wie man einen Mann verführte? Nichts natürlich, das war schon klar, und das würde sich auch nie ändern. Wenn sie nur ein Fünkchen Stolz besaß, musste sie einen Weg finden, der es ihr erlaubte, aus diesem Teufelskreis auszubrechen, sonst würde sie sich komplett zum Narren machen.
Sie musste sich auf ihren Job konzentrieren, auf sonst gar nichts.
Es war schließlich nicht so, dass sie Raphael die Schuld an ihren Gefühlen geben oder gar behaupten könnte, er versuche mit ihr zu flirten oder gar sie zu verführen. In Wahrheit war das Gegenteil der Fall. Charley war von Kindesbeinen an daran gewöhnt, sich nichts vorzumachen, besonders wenn es um ihre eigenen Unzulänglichkeiten und Fehler ging. Sie konnte Raphael nicht vorwerfen, dass sie ihn begehrte. Es war allein ihre Schuld. Aber es war nicht zu spät, noch konnte sie etwas ändern. Sie musste ihre Verletzlichkeit ihm gegenüber aufgeben und sich genauestens Rechenschaft darüber ablegen, welche Gefühle sie im Umgang mit ihm zulassen wollte und welche nicht. An erster Stelle jedoch sollte ihr Bemühen um absolute Professionalität stehen, das machte sie unangreifbar. Außerdem war es wichtig, Abstand zu halten, so wie es zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer üblich war. Sie konnte es schaffen. Du musst es schaffen, schärfte Charley sich ein, während sie die Treppe hinunterging. Immerhin hatte sie ihren Schwestern in einer SMS bereits mitgeteilt, dass sie bis auf Weiteres in Italien bleiben und an der Restaurierung des Gartens mitarbeiten würde. Deshalb war es zu spät, um es sich noch anders zu überlegen.
Da in der Eingangshalle von Raphael noch nichts zu sehen war, hatte sie Zeit, die Fresken dort eingehender zu betrachten und das begnadete Talent des Künstlers zu bewundern. Jedes einzelne Gesicht erzählte eine Geschichte über den Charakter der betreffenden Person, ganz besonders aber berührten Charley die Gesichter von drei Kindern in einer Szene. Das älteste Kind, ein Junge – wahrscheinlich der Erbe – strahlte denselben Stolz und dieselbe Arroganz aus, die Charley auch bei Raphael wahrzunehmen glaubte. Der Junge stand im Vordergrund und war eine Spur vornehmer gekleidet als seine beiden Geschwister und auch seine Mutter. Sein Blick schweifte in die Ferne, als wüsste er bereits, dass er eines Tages Herr über den ganzen Landstrich sein würde. Leicht versetzt hinter ihm stand ein Mädchen, wahrscheinlich seine Schwester. Sie trug ein mit Hermelin besetztes Gewand und warf ihrer Mutter einen fragenden Blick zu, während ein uniformierter Bote vor ihr kniete und ihr auf einem Tablett eine Pergamentrolle – vielleicht ein Heiratsantrag? – hinhielt. Das jüngste der drei Kinder – wieder ein Junge – saß auf dem Schoß seiner Mutter und streckte verlangend die Hand nach dem goldenen Kreuz aus, das die Mutter um den Hals trug. Als zweiter Sohn war er wahrscheinlich für ein hohes kirchliches Amt bestimmt gewesen.
„Die dritte Gräfin mit ihren Kindern.“
Beim Klang von Raphaels Stimme rieselte ihr ein verboten süßer Schauer über den Rücken. Ohne sich umzudrehen, erwiderte sie: „Der älteste Sohn hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Ihnen.“
„Er wurde getötet, als die Burg von einer feindlichen Armee unter Beschuss genommen wurde … weil er entschlossen war, seine Mutter und seine Schwester zu beschützen. Das hat er mit dem Leben bezahlt.“
Charley bekam eine Gänsehaut. Dann war der Junge also verletzlich gewesen, trotz aller Stärke, die er ausstrahlte. Anders als Raphael, der ganz bestimmt angreifbar war.
Als sie den Kopf wandte, fing sie Raphaels nachdenklichen Blick auf. Doch er schaute abrupt zur
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