Zur Leidenschaft verfuehrt
Ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass Sie sich bei uns nicht wohlfühlen werden, wenn Sie nicht angemessen gekleidet sind.“
Ganz im Gegenteil, hätte Charley gekontert, weil sie nur allzu gut wusste, wie fremd ihr diese Art Eleganz war, die Raphael meinte.
„Und da Sie sich entschlossen haben, für mich zu arbeiten, gehe ich selbstverständlich davon aus, dass Sie meine Anweisungen befolgen“, schloss Raphael.
„Als Projektleiterin bin ich doch nicht verpflichtet, mir von Ihnen meine Garderobe vorschreiben zu lassen!“, wandte Charley empört ein. „Unter Arbeitskleidung verstehe ich vernünftige Schuhe und einen Schutzhelm, der richtig sitzt.“
War das wirklich Mitleid, was sie da in Raphaels Augen aufblitzen sah?
„Das gehört natürlich auch dazu, aber ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass Sie in diesem Aufzug bei einem eleganten Dinner erscheinen möchten. Das traue ich nicht einmal Ihnen zu.“
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Für Raphael war es auch das Ende der Debatte, was er dadurch zum Ausdruck brachte, dass er den uniformierten Türsteher mit einem Nicken aufforderte, die Tür zu öffnen, und so Charley das Wort abschnitt. Und ihr damit zugleich signalisierte, dass er in diesem Punkt zu keinen Zugeständnissen bereit war.
Jetzt fühlte sich Raphaels Hand an ihrem Ellbogen eher wie ein Schraubstock an. Trotz aller Vorbehalte musste Charley allerdings zugeben, dass sie in diesem Moment froh war, die neue Jeans und die Lederjacke zu tragen, weil die elegante Verkäuferin sie eingehend von Kopf bis Fuß musterte. Gleichzeitig wurde ihr schmerzlich bewusst, wie schlecht die Befangenheit, die sie hier an diesem weiblichsten aller weiblichen Orte verspürte, bei dieser so ungeheuer selbstsicher wirkenden jungen Frau ankommen musste. Auch wenn sie sich nicht allzu lange mit ihr aufhielt, sondern schon bald dazu überging, Raphael schöne Augen zu machen. Doch es dauerte nicht lange, bis sich eine Frau mittleren Alters zu ihnen gesellte – die Chefin, wie sich gleich darauf herausstellte. Sie schickte ihre Angestellte weg, bevor sie ihre Kunden mit einem entgegenkommenden Lächeln begrüßte.
„Meine Assistentin benötigt eine neue Garderobe“, erklärte Raphael. „Normale Tageskleidung, mindestens zwei elegante Hosenanzüge, außerdem mehrere Cocktail- und Abendkleider.“
Oh bitte, bloß keine Kleider! wollte Charley protestieren. Kleider waren für sie tabu. Ihre Mutter hatte stets lachend abgewinkt, wenn Charley – selten genug – den Wunsch geäußert hatte, sich genauso zu kleiden wie ihre Schwestern. „Ach nein, Liebes“, hatte ihre Mutter dann gesagt. „Das kannst du unmöglich tragen, es passt einfach nicht zu einem Wildfang wie dir.“ Und so waren Kleider einschließlich aller weiblichen Accessoires nach und nach zu Charleys Feinden mutiert. Ihr bloßer Anblick in einem Schaufenster bewirkte, dass Charley bei der Erinnerung an erlittene Demütigungen der Schweiß ausbrach.
Aber die Frau beachtete Charley gar nicht mehr, sondern führte sie und Raphael in eine Ankleidesuite, mit einem Vorraum, der mit bequemen Sesseln, einem Fernseher und Lesestoff in Form von Tageszeitungen und Hochglanzmagazinen ausgestattet war. Auf einem Tisch standen eine große Thermoskanne mit Kaffee sowie zwei Tassen.
Raphael nahm in einem der Sessel Platz, während Charley in den luxuriösen Umkleideraum gewinkt wurde, wo die Chefin höchstpersönlich ihre Maße nahm. Als sie wieder in den Vorraum kam, saß Raphael Kaffee trinkend in seinem Sessel und studierte das Display seines BlackBerrys.
Die Boutiquebesitzerin redete so rasend schnell auf zwei herbeizitierte junge Verkäuferinnen ein, dass Charley nicht folgen konnte, obwohl sie genau hinhörte, damit sie Einspruch erheben konnte, sobald das gefürchtete Wort „Kleid“ fiel.
Wenig später rollten die Verkäuferinnen unter den scharfen Blicken ihrer Chefin Kleiderständer herein, die sich rasch mit traumhaft eleganten Kleidern füllten, aus wundervollen Stoffen, in raffinierten Farben. Außerdem zwei schwarze Hosenanzüge, Röcke, Shorts, T-Shirts, Pullis, Jacken, Blusen … Charleys Panik wuchs mit jedem neuen Kleidungsstück, das der Kollektion hinzugefügt wurde.
Und dann brachte ein Abendkleid das Fass zum Überlaufen. Ein Traum aus cremefarbenem Seidensatin, ganz sparsam mit winzigen Perlen besetzt, der Stoff so leicht, dass er sich im Luftzug der Klimaanlage bewegte. Ohne es genauer betrachtet zu haben, wusste
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