Zur Leidenschaft verfuehrt
ich dir immer und immer wieder von der Vergangenheit erzählt, in der Hoffnung, dass du mich eines Tages verstehen und dich nicht von mir abwenden wirst, wenn die Zeit gekommen ist, dir die Wahrheit über deine Abstammung zu erzählen. Aber falls du es wider Erwarten doch tun solltest, mein geliebter Raphael, wirst du trotzdem immer mein Kind bleiben, mein geliebter Sohn, den ich mit so viel Freude und Stolz in mir getragen habe und den ich mit demselben Stolz und derselben Freude habe aufwachsen sehen.
Charley hob den Kopf und biss sich auf die Lippen, um zu verhindern, dass ihr die Tränen kamen. Jedes einzelne Wort in diesem Brief zeugte von der großen Liebe, die seine Mutter Raphael entgegengebracht hatte.
Aber warum hatte sie den Brief versteckt? Er trug keine Unterschrift. Hatte sie ihn vielleicht nur beiseite gelegt, um ihn zu einem späteren Zeitpunkt zu beenden?
Wie selbstlos Mutterliebe war. Raphaels Mutter war entschlossen gewesen, dafür zu sorgen, dass ihr Sohn frei war von der Last der Vergangenheit, an der sie so schwer zu tragen hatte, sogar um den Preis, dass die Wahrheit die Beziehung zwischen ihnen zerstörte.
Die Wahrheit!
Charley ließ sich auf ihre Fersen sinken. Erst jetzt begann sie langsam die ganze Tragweite dieses Briefs zu begreifen, nicht nur für Raphael, sondern für sie beide!
Raphael und sie konnten zusammen sein, nun stand nichts Trennendes mehr zwischen ihnen. Raphael trug kein gefährliches Erbe in sich, weil er genetisch nicht von der Frau abstammte, die ihn unter ihrem Herzen getragen und zur Welt gebracht hatte. Jetzt konnten sie sich lieben, ohne dass Raphael Angst haben musste, ihr, Charley, etwas vorzuenthalten.
Am liebsten hätte sie gejubelt vor Freude. Sie barst vor neuer Energie und Ungeduld. Sie würde nach Rom fahren und Raphael den Brief persönlich überbringen, um bei ihm zu sein, wenn er ihn las. Sie wusste, dass er seiner Mutter verzeihen, dass er erkennen würde, dass sie ihn so selbstlos geliebt hatte wie einen leiblichen Sohn.
Ihre Gedanken rasten, sie machte Pläne, doch dann schoss ihr ein ganz neuer Gedanke durch den Kopf.
Was war, wenn sie zu viel als gegeben voraussetzte? Immerhin war Raphael ein Graf, ein Aristokrat, Träger eines uralten Titels, Mitglied einer geschlossenen Gesellschaft sozusagen, vor allem, wenn es um die Produktion künftiger Erben ging. Vielleicht hatte er sich ja nur mit ihr eingelassen, weil er entschlossen gewesen war, nie Kinder zu bekommen? Aber was war jetzt, nach diesen bahnbrechenden Enthüllungen? Musste nicht jetzt sie, Charley, einen Schritt zurücktreten, um ihm zu ermöglichen, sich in aller Freiheit für oder gegen sie zu entscheiden, genauso wie er seine Sorge um ihre Zukunft über seine eigenen Wünsche und Gefühle gestellt hatte?
Und was war, wenn er sich gegen sie entschied? Wenn er sich von ihr abwandte? Allein bei der Vorstellung wurde es Charley eiskalt ums Herz. Aber sie musste das Richtige tun – das Richtige für Raphael.
Eine Stunde später schaute sie dem Kurier hinterher, dem sie einen Brief an Raphael mitgegeben hatte, zusammen mit dem Brief seiner Mutter. Man hatte ihr versichert, dass die Post Raphael noch an diesem Vormittag erreichen würde.
Es ist vorbei, dachte Charley verzweifelt, als das Flugzeug die graue Wolkendecke über Manchester durchbrach und über der regennassen Landebahn zu Boden ging. Ihre Kehle schmerzte von unvergossenen Tränen. Jetzt wurden ihre Augen wieder feucht. Um zu verhindern, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen, kniff sie ganz fest die Augen zu, was ihren Sitznachbarn aller Wahrscheinlichkeit nach zu der falschen Annahme verleitete, dass sie wegen der Landung nervös war. Charley lächelte bitter.
Bis zum letzten Moment hatte sie sich geweigert, die Hoffnung aufzugeben. Erst als heute Morgen der Wagen gekommen war, um sie zum Flughafen zu bringen, hatte sie schließlich akzeptieren müssen, dass Raphael sie nicht wollte.
Es war jetzt zehn Tage her, seit sie ihm den Brief geschickt hatte. Anfangs hatte sie stündlich damit gerechnet, dass er vor dem Palazzo vorfahren, sie in den Arm nehmen und ihr sagen würde, wie sehr er sie liebte.
Doch als aus den ereignislosen Stunden Tage geworden waren, hatte sich ihre freudige Erwartung in Verzweiflung gewandelt. Sie hatte weder essen können noch schlafen. In der Nacht hatte sie aus dem Schlafzimmerfenster in die Dunkelheit gestarrt und wider alle Vernunft gehofft, dass er doch noch kommen möge. Sein
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