Zur Leidenschaft verfuehrt
Schweigen hatte es ihr nicht gestattet, sich mit ihm in Verbindung zu setzen – nicht einmal per E-Mail. Ihr Stolz hatte es verhindert. Und warum hätte sie es auch tun sollen, wo er doch so überdeutlich erkennen ließ, dass er sie nicht mehr wollte?
Bald würde sie zu Hause sein. Zu Hause? Im Moment kam sie sich ganz und gar heimatlos vor. Sie fühlte sich wie eine Ausgestoßene, vertrieben von dem einzigen Ort, an dem sie sein wollte, verschmäht von dem einzigen Mann, den sie jemals lieben würde.
An den Absperrgittern in der Ankunftshalle drängten sich Menschen, die nach Freunden oder Familienmitgliedern Ausschau hielten. Charley gönnte ihnen kaum einen Blick. Ihrer eigenen Familie hatte sie ihre Rückkehr nicht mitgeteilt, weil sie sich bis zuletzt an die Hoffnung geklammert hatte, dass ein Wunder geschehen und Raphael ihre Abreise verhindern möge.
Wie töricht es doch gewesen war, so etwas zu denken! Aber wenigstens hatte sie ihre Erinnerungen, die konnte ihr niemand nehmen. Sie durchquerte die Ankunftshalle, wobei sie überlegte, dass sie am besten ein Taxi nehmen sollte. Taxi fahren war zwar teuer, aber zum Glück war die Fahrt bis nach Hause nicht allzu weit.
Plötzlich entstand hinter ihr Bewegung. Sie hörte schnelle Schritte, dann ergriff jemand ihren Arm. Charley fuhr erschrocken herum.
Und riss ungläubig die Augen auf. Das war nicht irgendjemand , der sie da am Arm gepackt hatte! Das war Raphael … der Mann ihres Lebens!
„Raphael …“ Während Charley den Namen flüsterte, fragte sie sich beunruhigt, ob er vielleicht eine Fata Morgana war. War er nur eine Fantasiegestalt, die sie in ihrer Verzweiflung heraufbeschworen hatte? Denn wo sollte er so plötzlich herkommen? Aus dem Flugzeug, mit dem sie gekommen war, bestimmt nicht.
Und doch war er es, ganz ohne Zweifel. Er nahm sie in den Arm und drückte sie so fest an sich, dass sie das dumpfe Hämmern seines Herzens spürte.
„Ich … ich kann es nicht glauben, dass du hier bist“, stammelte Charley.
„Glaub es einfach“, sagte Raphael. „Und glaub mir auch, dass ich entschlossen bin, dir nicht mehr von der Seite zu weichen, bis du mir versprochen hast, dass du mich nie wieder verlässt.“
„Ich dachte, du willst, dass ich gehe“, gab Charley, schon längst nicht mehr so überzeugt, zurück.
„Das Einzige, was ich will, bist du, sonst gar nichts. Ich kann ohne dich nicht leben. Ich dachte, ich könnte es, aber ich habe mich geirrt. Ich schaffe es nicht. Und deshalb frage ich dich jetzt: Willst du meine Frau werden, Charlotte Wareham? Willst du mich nach Italien begleiten und mein Leben mit mir teilen?“
Er klang so demütig oder wenigstens so demütig, wie ein von Natur aus stolzer Mann wie er es nur sein konnte. Charley argwöhnte, dass es wahrscheinlich nichts gab, was sie ihm abschlagen könnte.
„Ich wüsste nicht, was ich mir mehr wünschte, Raphael.“
„Dann lass uns so schnell wie möglich heiraten. Ich will nämlich nicht riskieren, dich noch einmal zu verlieren.“ Jetzt hielt er ihre Hand und verflocht ihre Finger mit seinen.
„Es ist nämlich so“, fuhr er fort. „Ich habe mich noch einmal sehr eingehend mit dieser Kinderfrage auseinandergesetzt.“ Während er sprach, fixierte er einen Punkt über ihrer Schulter, und Charley sah, dass er die Kiefer fest aufeinanderpresste, so wie er es immer tat, wenn er versuchte, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen.
„Dank der modernen Fortpflanzungsmedizin wird es uns ohne Weiteres möglich sein, ein Kind zu haben, das deine, aber nicht meine Erbanlagen in sich trägt, ein Kind, das in dir heranwächst. Und das bedeutet, dass du nicht darauf verzichten musst, Mutter zu werden, nur weil meine Gene es mir verbieten, Kinder in die Welt zu setzen. Und was mich selbst betrifft, so gelobe ich, dich sofort freizugeben, falls sich herausstellen sollte, dass meine Mutter das dunkle Erbe an mich weitergegeben hat.“
Charley starrte ihn verwirrt an. Sie brachte keinen Ton heraus, während ihr tausend Gedanken durch den Kopf schossen. Hatte er den Brief womöglich gar nicht gelesen?
„Hast du denn die Post nicht bekommen, die ich dir nach Rom geschickt habe?“, fragte sie verständnislos.
Raphael stutzte. „Was denn für Post? Nein. Ich war kaum drei Tage in Rom, als ich beschloss, eine Auszeit zu nehmen und in meine Skihütte in den Bergen zu fahren. Ich konnte weder schlafen noch essen und musste die ganze Zeit nur an dich denken und daran, was ich verloren
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