Zur Leidenschaft verfuehrt
einmal“, warnte er sie. „Ich werde es nicht zulassen, dass du das, was wir miteinander geteilt haben, in den Schmutz ziehst. Das Geld hat damit nichts zu tun. Es ist eine Entschädigung, weil du deine Arbeit verlierst.“
Raphael ließ sie los.
„Es wird eine Weile dauern, bis alle Formalitäten geklärt sind – ungefähr zwei Wochen, vermute ich – und während dieser Zeit ist es wichtig, dass du hier im Palazzo bleibst.“
„Und wo wirst du sein?“, fragte Charley.
„In Rom. Hier kann ich nicht bleiben“, gab Raphael düster zurück. „Im Moment jedenfalls nicht. Es wäre zu viel … für uns beide. Sieh mich nicht so an. Ich tue das alles nur für dich, und eines Tages wirst du mir dankbar sein, glaub mir, Charley.“
Charley schüttelte den Kopf, blind vor Tränen.
„Nein“, gab sie mit gebrochener Stimme zurück. „Das werde ich ganz bestimmt nicht, und ich werde niemals aufhören, dich zu lieben.“
12. KAPITEL
In zehn Tagen würde sie Florenz verlassen. Alles war bereit. Sogar ihr Ticket hatte sie schon. Jemand würde sie abholen und zum Flughafen bringen, sie musste nur noch ihren Papierkram ordnen und ihre Termine absagen.
Charley öffnete die Schreibtischschublade, um den Kalender herauszunehmen, den sie als zusätzliche Erinnerung benutzte, damit sie sicher sein konnte, auch wirklich nichts übersehen zu haben. Aber irgendetwas klemmte da. Sie kniete sich vor den Schreibtisch und spähte in die Öffnung, um herauszufinden, was es war. Offenbar hatte sich der Kalender zwischen Schubladenkante und Schreibtischunterseite verhakt. Sie griff nach einem Lineal und stocherte damit in dem Spalt herum, in der Absicht, den Kalender nach vorn zu schieben. Charley musste viel Geduld aufbringen, über die sie eigentlich gar nicht verfügte, bis sich das Ding endlich millimeterweise bewegte. Sie atmete angespannt aus. Als sie weiterstocherte, verschwand der Kalender in einem Hohlraum des Schreibtisches. Charley ruckelte heftig an der Schublade und zog. Ruckelte noch einmal und zog wieder, so lange, bis die Schublade endlich nachgab. Und als Charley sah, dass da zwar immer noch kein Kalender war, dafür aber die Rückwand der Schublade fehlte, wurde ihr ganz heiß vor Schreck.
Oje! Jetzt hatte sie den wertvollen alten Schreibtisch von Raphaels Mutter ruiniert. Entsetzt zog Charley die Schublade vollständig heraus. Und stutzte, als sie sah, dass diese um gut eine Handbreit kürzer war als der Schreibtisch in seiner Tiefe. Was hatte das zu bedeuten? Befand sich hinter der Schublade womöglich eine Art Geheimfach, das sie aus Versehen gewaltsam geöffnet hatte? Behutsam schob sie die Hand in die Öffnung und tastete nach ihrem Kalender. Als sie das dünne Büchlein schließlich zu fassen bekam, spürte sie noch etwas anderes, das sie ebenfalls herauszog. Sie sah, dass es sich um einen relativ dicken Briefumschlag handelte, der offenbar nie verschlossen gewesen war. Unsicher drehte Charley ihn um und bekam prompt Herzklopfen, als ihr Blick auf die handschriftlich geschriebenen Worte auf der Vorderseite fiel.
An meinen geliebten Sohn Raphael
Charley, immer noch mit dem Umschlag in der Hand, kniete sich auf den Boden, der Kalender war vergessen.
Das war ein Brief von Raphaels Mutter. Es musste so sein. Und Charley wusste, dass sie kein Recht hatte, ihn zu lesen. Aber ihre Hand zitterte so sehr, dass irgendwie der Inhalt aus dem Umschlag rutschte und die dicken Briefbögen aus Büttenpapier in ihrem Schoß landeten.
Aufgeregt legte sie den Umschlag weg und griff nach den Blättern.
Jetzt war es schlechterdings unmöglich, nicht auf die elegant geschwungene Handschrift zu schauen, auf das mit schwarzer Tinte geschriebene Datum, das oben auf dem ersten Blatt stand.
Der Brief war fast zwanzig Jahre alt. Damals war Raphael noch ein Junge gewesen. Bei dem Gedanken überkam Charley eine schmerzliche Sehnsucht. An ihren Mundwinkeln zerrte ein zärtliches Lächeln, als sie sich den Jungen vorzustellen versuchte, der er einst gewesen war.
Sie schaute wieder auf den Briefbogen in ihrem Schoß. Die Worte schienen sie förmlich anzuspringen, als verlangten sie gelesen zu werden.
Mein liebster, von ganzem Herzen geliebter Sohn – und das bist du, Raphael, MEIN Sohn, der Sohn meines Herzens und meiner Liebe. Ich schreibe dir diesen Brief auf Englisch, weil Englisch die Sprache ist, die mich meine englische Gouvernante gelehrt hat, so wie dein Vater und ich dich Englisch gelehrt haben, damit wir alle
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