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Zusammen Allein

Titel: Zusammen Allein Kostenlos Bücher Online Lesen
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die Hintertür hatte der Hausmeister nicht richtig verschlossen. Während Petre sich aufs Pult setzte, schaute ich mir den Schaden an. Der hohe Raum mit den Bogenfenstern wirkte fremd und gespenstisch. Während der Protestaktionen waren Demonstranten eingedrungen, hatten sinnlos das Mobiliar verschoben und teilweise zerstört. Bänke waren umgestoßen und Stühle zu einem Turm aufgeschichtet worden. Mit Kreide waren Anti-Ceauşescu-Parolen an die Tafel, aber auch an die Wände gekritzelt worden.
    »Endlich werden sie renovieren müssen«, sagte ich und nahm neben Petre Platz. Die Deckenlichter waren intakt, daher saßen wir im hellen Schein einer Neonröhre.
    »Du meinst, jetzt wird alles anders?« Ein feines Zittern ging durch Petres Körper. Ich wusste, dass er nicht glücklich war. Die Revolution war gründlich schiefgegangen.
    »Die Grenzen sind offen«, versuchte ich ihn aufzuheitern, »die Freiheit, von der du geträumt hast, istda. Zumindest kannst du jetzt endlich nach Paris fahren.«
    »Von welchem Geld? Misch hat nicht nur seine Arbeit verloren. Sie haben ihm auch den Rentenanspruch gekürzt. Aber du kannst fahren, deine Eltern warten auf dich.«
    Erschrocken sah ich ihn an. Was wollte er, wollte er, dass ich mich im Westen in Sicherheit brachte?
    »Weißt du«, stammelte ich, »mir kommt es so vor, als sei ich seit Jahren auf dieser immer gleichen Dorfstraße unterwegs. Man kann ewig weit gucken, da ist nichts, was mich lockt, aber ich gehe weiter, immer weiter. Meine Eltern haben mich an dieser Straße ausgesetzt. Wenn sie gewollt hätten, dass ich im Westen lebe, hätten sie mich mitgenommen.« Die letzten Worte klangen ungewollt dumpf. Dabei hatte ich vermutet, der Verbitterung längst entwachsen zu sein.
    »Denk genau nach, du bist auch abgebogen.« Jetzt war Petres Stimme klar und voller Ironie. Der Schelm in ihm versuchte mich zu necken, vielleicht auch zu trösten. »Du hast Puscha und uns mit deinem Besuch beehrt. Dann hast du dich an mich herangemacht, und schließlich hast du dich sogar zu einer Jeanne d’Arc entwickelt.«
    Eine Pause trat ein, ich musste an Mihálys Beerdigung denken. Auf dem Heimweg hatten uns Lastwagen mit westdeutschen und österreichischen Kennzeichen überholt. Ein Novum. Aber inzwischen stapelten sich in ehemaligen Fabrikhallen gebrauchte Kleidung, Kühlschränke, defekte Zahnarztstühle.
    »Ich war nie richtig politisch«, grübelte ich und ergriff Petres Hand, doch er entzog sie mir sofort. Einekleine Ohrfeige, die mir einen heftigen Stich versetzte. Meine Sehnsucht würde mich wohl nie verlassen. »Von Politik habe ich auch nicht gesprochen. Ich habe vom Freiheitskampf gesprochen. Die Politik, nein, die Macht verbiegt Menschen wie unter Feuer. Ich muss das erst nach und nach begreifen. Weder die Studentennoch die Arbeitergruppen werden nach ihrer Meinung gefragt. Plötzlich sind da Vereinigungen, von denen man noch nie gehört hat. Die alten Schergen haben sich zusammengerottet und sich einen neuen Mantel umgehängt. Mein Volk ist nicht befreit worden, ein paar Mächtige haben lediglich beschlossen, dass ihnen die Macht in einer sogenannten Demokratie besser schmecken könnte.« Petre war auf sein Lieblingsthema gestoßen. Ich wartete, bis er sich beruhigt hatte, dann wies ich ihn darauf hin:
    »Du hast mein Volk gesagt. Ich gehöre wohl nicht mehr dazu.« Weil er lange nicht antwortete, stellte ich gleich die nächste Frage: »Wohin gehöre ich, zu Puscha, zu meinen Eltern, zu dir?«
    Er drehte sich zu mir, eine Haarsträhne war ihm über das Gesicht gerutscht, dennoch sah ich es: Er lachte mich aus. Nichts anderes hatte ich erwartet.
    »Die Frage ist absurd. Du gehörst dir allein. Ich will nicht wieder von der Freiheit beginnen, aber jetzt, wo die Grenzen geöffnet sind, für dich mehr als für mich, stehen dir alle Möglichkeiten offen.«
    »Liane und Sebastian sind bereits ausgewandert.«
    »Ich weiß.« Petre dehnte und streckte sich. Es war spät. »Wir sollten nach Hause gehen.«
    »Fährst du jetzt mit mir nach Paris oder nicht?«, wollte ich wissen und erhob mich.
    »Weiß nicht, es gibt hier so viel zu tun.«
    »Das stimmt, man könnte zum Beispiel aufräumen.«
    Petre betrachtete mich wie jemanden, den man für nicht ganz normal hält. Ob ich freiwillig ein Klassenzimmer aufräumen möchte, wollte er wissen. Er spreche von den großen Dingen, von der jungen Republik, die von den alten Stinktieren gesäubert werden müsse. Doch als er sah, dass ich es ernst

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