Zusammen Allein
wie hatte Petre in seinem letzten Gedicht geschrieben:
Da ist so ein Gefühl
.
Ja!
Da war so ein Gefühl
. So etwas hatte ich noch nie gefühlt, während keines Gottesdienstes, während keiner Feier. Es gibt eine Solidarität, die stärker ist als die Angst. Und ich war stolz, zu den Mutigen zu gehören. Als eine Frau mit einem Bündel Kerzen vorbeikam, wollte Petre ihr eine abkaufen, doch sie wehrte das Geld ab. Stattdessen lächelte sie uns an, und ihre kleinen Augen füllten sich mit Tränen. Mir wurde klar, dass siesich beschenkt fühlte, weil wir eine Kerze entzündeten. Petre stand dicht bei mir, nun rückte er noch ein bisschen näher heran. Liebevoll legte er seinen Arm um meine Schulter, und wir teilten uns die Kerze. Wir teilten uns auch einen viertel Quadratmeter Pflasterfläche, und ich konnte nicht anders, der Wunsch, mit diesem Mann zusammenzuleben, sprang mich erneut wie ein wildes Tier an. Doch die Kerze in meiner Rechten kam mir zu Hilfe. Sie war für den Frieden und für die Freiheit entzündet worden, wusste nicht, wohin mit ihrer Kraft, und fraß sich durch meinen Mantel. Ich roch die verbrannte Wolle, ließ von jedem anderen Gedanken ab und löschte rasch das entstandene Loch. Es war Puschas Mantel, und ich wünschte sie mir sehnlichst an meine Seite. Auch an meine Eltern dachte ich, allerdings kurz und ganz ohne Sehnsucht. Und Petre? Er war und blieb, was er war: meine erste große Projektion.
Hatte ich die Soldaten vergessen, war ich so naiv gewesen, dass ich dachte, sie würden die ganze Nacht über nur herumstehen? Ja und nein. Wir, und damit meine ich nicht nur unsere kleine Gruppe aus Kronstadt, fühlten uns unbesiegbar. Und es ging ja auch tatsächlich lange gut. Stundenlang beobachteten wir die Soldaten, stundenlang beobachteten sie uns. Selbst als der Pastor sich vor seinem Haus zu Wort meldete und uns bat heimzugehen und wir nicht wie empfohlen reagierten, sondern ihn freudig begrüßten und ihm unsere Unterstützung lautstark kundtaten, griffen die Truppen nicht ein. Fast schien es, als wären sie gekommen, um auf uns aufzupassen.
Stimmen waren laut geworden, die eine Absetzung Ceauşescus forderten und Freiheit für das rumänische Volk. Der Ruf
Libertate
setzte sich durch, addierte sich, bildete einen Stimmenstrom, der wie eine Welle über den Marienplatz schwappte. Die Sicherheitskräfte wurden unruhig, man hörte das harte Aufschlagen von Stiefeln. Liane hatte in der Menge ihren Cousin Mihály entdeckt. Er, ein einfacher Arbeiter, hatte erst vor einer Woche seinen Hungerstreik beendet, durch den er eine gerechtere Versorgung mit Lebensmitteln und bessere Arbeitsbedingungen in seiner Fabrik erzwingen wollte. Jetzt legte er seine ganze Kraft in seine Stimme und schrie nach Freiheit. Ein Bekannter von ihm war es, der die Menschen aufpeitschte und sie zu einem Protestzug durch die Stadt antrieb. Euphorisch folgten wir ihm, froh darüber, dass wir uns endlich bewegen konnten. Dabei übersahen wir die Panzer, die in den Nebenstraßen parkten und auf ihren Einsatz warteten.
Zunächst führte uns der Weg zum Universitätsgelände, doch dort war alles dunkel, die Studenten hatten sich hinter blickdichten Vorhängen verkrochen. Auf dem Weg in den Süden jedoch fielen uns Kerzen auf, die in die Fenster der Häuser gestellt worden waren. Wir wussten, dass wir, wenn auch zaghaft, damit unterstützt werden sollten. Im Arbeiterviertel Giroc schließlich erwartete man uns, und die Arbeiter strömten aus ihren Häusern, obwohl es nach zwei Uhr war. Die Parolen mitbrüllend, schlossen sie sich unserem Zug an. Ich war unglaublich stolz auf mein Heimatland.
Dann das Erwachen wie aus einem Traum. Der Marienplatz, auf den unsere Anführer zurückwollten, war abgesperrt worden. Zwei Militärfahrzeuge standen querauf der Kanalbrücke, die den Opern- mit dem Marienplatz verband. Unschlüssig blieb unser Demonstrationszug, der inzwischen stark angewachsen war, stehen. Lauter noch als zuvor wurde die Parole wiederholt:
Nieder mit der Diktatur.
»
Jos dictatura!«
Neben mir brüllte ein etwa vierzigjähriger Mann besonders laut, ich hatte ihn vorher nicht gesehen, und irgendetwas störte mich an seiner Erscheinung. Er schrie ohne Überzeugung in der Stimme, ohne eigenen Antrieb. Die Anführer gehörten durchweg der Arbeiterschicht an, er aber trug einen dunkelbraunen Mantel aus Wolle. Als ich mich wenig später wieder nach ihm umdrehte, war er verschwunden, an seiner Stelle war ein anderer Mann
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