Zusammen Allein
vielleicht war es später, seit Stunden riefen die Menschen dieselben Parolen, ich hatte Durst, und meine Zunge lahmte, fielen wieder Schüsse. Zu Tode erschrocken sah ich mich um. Mein Blick blieb an einem Mann in Arbeiterkleidung hängen. Erst jetzt erkannte ich ihn. Seit einer halben Stunde etwa stand er neben Petre. Er war einer der Lautesten gewesen, seine Stimme hatte »Nieder mit dem Diktator!« gerufen, doch jetzt hielt er eine Pistole in der Hand, so wie er gestern einen Knüppel gehalten hatte. Ohne jeden Grund schoss er in die Menge. Wenige Sekunden später brach Panik auf dem Platz aus, weitere Schüsse hallten durch die Luft. Auch von Dächern und von Balkonen aus wurde geschossen, und das Geräusch der heranrollenden Panzer presste alle Gedanken aus meinem Kopf. Liane war in Panik geraten, sie griff nach meiner Hand, zog mich fort.
»Nein«, rief ich und versuchte, mich freizumachen, doch erst ein paar Meter weiter konnte ich meine Finger aus der Umklammerung lösen. Sie rannte weiter, rannte.
Inzwischen hatten die Panzer den Platz erreicht, aber einige Jugendliche schienen vorbereitet zu sein, sie warfen Molotow-Cocktails, schwarzer Qualm erfüllte den Platz, vermengte sich mit dem Angstschweiß der Demonstranten.Trotz der Schüsse, trotz der strotzenden Gewaltdemonstration des Militärs gingen die Freiheitsrufe weiter.
»Nieder mit dem Diktator!«
Lebensmüde Jugendliche erklommen die Panzer, zerrten Soldaten heraus. Der Protest ließ sich nicht mehr unterdrücken. Wie Stehaufmännchen erhoben sich viele vom Boden, schüttelten den Staub ab, formierten sich neu. Auch ich ging zu meinen Leuten zurück. Der Mann mit der Pistole war verschwunden. Ich atmete auf. Vielleicht weil ich gerade
Libertate
schrie, vielleicht weil gerade ein Hubschrauber über uns kreiste, vielleicht weil ich dachte, alles würde gut werden, trotz der Gewalt, die uns umzingelte, habe ich es zuerst nicht bemerkt. Petre stand mit Mihály zusammen, die beiden gaben ein schönes Paar ab. Sie hielten die Arme in die Luft, Petres Arm und Mihálys Arm bildeten ein umgedrehtes V. Wie Brüder hielten sie sich, Brüder im Kampf. Schaut her, wir sind nicht bewaffnet, aber wir kämpfen mit Worten und geben nicht auf, drückte ihre Haltung aus. Ich hörte nichts, weil sowieso alles um mich herum laut war, der einzelne Schuss jedenfalls wurde verschluckt, aber ich sah den Stoß, durch den Mihály plötzlich ins Wanken geriet, der ihn nach vorne beugte, fast zu Boden warf. Bereits im Fallen drehte er sein Gesicht, als suche er den Feind, seine Augen wanderten ungläubig über die Köpfe der Demonstranten. Dann löste sich seine Hand aus Petres Hand, der weiter schrie, der nach Freiheit rief, bis auch er merkte, dass etwas nicht stimmte, dass neben ihm ein Menschenleben zu erlöschen drohte.
Was in den folgenden Stunden, Tagen und sogar Wochen geschah, gleicht in meiner Erinnerung vielfarbigen Puzzleteilen, die ich nicht zu einem einzelnen oder gar homogenen Bild zusammenfügen kann. Zu viel Verdrängtes, Gehörtes, Dementiertes und selbst Erlebtes liegt auf dem Erinnerungstisch ausgebreitet.
Mihály war in die Brust getroffen worden. Befand sich das Herz rechts oder links, ich wusste es nicht mehr. Ein dünner Blutstrom hatte sich einen Weg durch die dick wattierte Jacke gebahnt, und ich verfolgte den Weg mit den Augen, bis er auf die Steinplatten traf. Hätte die Kugel nur vierzig Zentimeter weiter rechts die Menschenmenge durchtrennt, Petre läge jetzt auf der Erde. Während ich starr vor Schreck neben Mihály niedergesunken war, drehte Petre ihn vorsichtig auf den Rücken, sah, dass er bewusstlos war, kontrollierte den Puls, dann machte er mir ein Zeichen. Gemeinsam hoben wir den Verletzten auf. Zunächst versuchte ich es vorne, doch Mihálys Oberkörper war bleischwer, ich ging nach hinten. Liane war verschwunden, doch mir blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Taumelnd drängten wir uns rückwärts durch die Menschenmenge, vorbei an weiteren Verletzten, an hysterisch schreienden Demonstranten, an ängstlichen Alten. Es wurde immer noch geschossen. Doch die Soldaten ließen uns durch, und weil wir in der Aufregung nicht wussten, wohin wir gehen sollten, zeigten sie uns den Weg. »Da lang«, sagte ein junger Soldat, »zur Klinik Nummer Zwei, das Kreiskrankenhaus ist zu weit weg.«
10
Das Regime darf man nicht gegen den Strich streicheln. Es knurrt, es beißt. So ähnlich hatte Puscha sich einmal ausgedrückt. Es war der
Weitere Kostenlose Bücher