Zusammen Allein
20. 12. 1989, als ich zum Postamt ging, um zu Hause anzurufen. Ich schwankte wie eine Betrunkene, mein Gesicht fühlte sich verquollen an, auch verhärtet, als hätte eine Salzkruste die Poren verstopft.
Nach über drei Stunden Wartezeit, die ich zumeist auf dem Fußboden neben der dritten Telefonzelle verbrachte, bekam ich endlich den erhofften Anschluss. Ich machte mir Gedanken um Puscha und Misch. Bestimmt sorgten sie sich um uns.
Radio Freies Europa
hatte von Hunderten von Verletzten berichtet. Als sie meine Stimme hörte, begann Puscha zu weinen. Allerlei Gefühle, sonst im Untergrund lebend, loderten in diesen Tagen an der Oberfläche. Liebe und Hass. Meine Großmutter liebte mich, das wurde mir erst in dieser Stunde bewusst. Noch bevor ich mehr als drei Worte sagen konnte, legte sie los:
»No, was machen deine Knochen, sind sie noch ganz? Wie auch immer, komm nach Hause«, flehte Puscha, »lass die anderen sterben, ich brauche dich.« Und dann erzählte sie, dass auch vor der Schwarzen Kirche Kerzen entzündet worden seien und dass auch in Bukarest …
Die Verbindung brach mitten im Satz ab. Ich wischtemir über das feuchte Gesicht. Wie schön war es doch, am Leben zu sein und ihre Stimme zu hören.
Alle starrten in diesen Tagen nach Bukarest, Ceauşescu war von seiner Auslandsreise zurückgekehrt, und weil er das Ausmaß des Protestes immer noch nicht begriffen hatte, trommelte er am nächsten Tag parteitreue Arbeiter zu einer großen Kundgebung zusammen. Er versprach ihnen 50 Lei mehr Rente. Als kein Jubel seine Ohren erreichte, erhöhte er die Zusage auf 100 Lei. Statt Jubel nun Pfiffe. Ungläubig starrte der Diktator auf die Versammelten und rief: 200 Lei mehr Rente! Aus den Pfiffen entwickelten sich Sprechchöre, die seine Abdankung verlangten. Eilig wurde die Direktübertragung gestoppt, und der Fernsehsender spielte Marschmusik vom Band ein. Die Zuschauer sollten nicht erfahren, dass die Jubeldemonstration umgekippt war und sich in eine Protestkundgebung verwandelt hatte. Doch da war es bereits zu spät. Das Reich des Titanen bebte. Ihm und seiner Frau blieben nur noch wenige Tage.
Wie oft war ich vor Puscha gestanden, hatte auf irgendetwas gewartet, auf Trost, auf Zuneigung, auf Aufmunterung. Und immer hatte sie es geschafft, sich hinter einer Maske zu verstecken. Als wir aber aus Temeschwar zurückkamen, da schloss sie mich in die Arme und drückte mich so fest an sich, dass ich dachte, dies wäre mein schönster, aber auch mein letzter Tag. Keiner von uns sagte etwas, wir waren in einem zwitterhaften Glücks- und Kummerschweigen vereint. Hinter Puscha, im Türrahmen, tauchte Misch auf. Er trug sein Hemdoffen, die Hose war nachlässig zugeknöpft, ein ungewohnter Anblick. Petre drängte sich an uns vorbei und schloss seinen Vater in die Arme.
Ja, wir feierten unser Wiedersehen. Und wir feierten das Ende des rumänischen Kommunismus. Aber Puscha sollte recht behalten, der Anfang schmeckte nicht nur ungewohnt, sondern auch bitter. Dieser bittere Geschmack verließ uns nicht. Demokratie buchstabiert sich anders, das hatten Petre und ich in den Straßen von Temeschwar begriffen.
»Joi, tu mir das nicht mehr an.« Nun kamen sie doch, Puschas Vorwürfe. »Die Augenbrauen habe ich mir ausgerupft, die Haare jede Woche färben lassen müssen. Du bist der Grabstein, der sich auf meine alte Brust senkt.«
Wir lachten sie aus. Welche Augenbrauen, lachten wir, wie viele Wochen sollen wir weg gewesen sein?
Meine Großmutter ließ sich nicht beirren, erschöpft wie nach einem Marathon sank sie auf einen Küchenstuhl und setzte zu einer langatmigen Aufzählung an. Schlaflose Nächte kamen darin vor und Appetitlosigkeit, aber auch Selbstvorwürfe, weil sie dieses Regime mitgetragen hatte. »No, hätte ich gewusst, wie dieses Geschwür sich ausbreitet, no, hätte ich gewusst, dass ihr einmal so darunter leiden müsst, ich hätte vor zwanzig Jahren zu den Waffen gegriffen, das könnt ihr mir getrost glauben.«
Ihre Körperhaltung aber drückte mehr aus als alle Worte. Sie schien unglaublich erschöpft, am Rande eines Zusammenbruchs. Sie liebte mich mehr als ihr Leben.
11
Es war ein seltsames Gefühl, spätabends in dem ungeheizten Klassenzimmer zu stehen, in dem ich einen Großteil des letzten Jahres zugebracht hatte. Durch Zufall waren Petre und ich auf unserem Weg durch die Stadt an der Honterusschule vorbeigekommen. Die vordere Tür war mit Holzdielen verriegelt worden, doch
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