Zusammen Allein
gesprochen. Man bot mir einen Platz an, und einer der Männer befreite mich von meinem Anorak, obwohl ich fror.
»Einen Spitznamen haben sie dir nicht gegeben, nicht wahr«, sprach mich meine Großmutter an. Sie schaffte es mit wenigen Worten, Vorwürfe zu stabilen Mauern aufzutürmen. »Gut, nennen wir dich also Agnes. Obwohl das ein schrecklicher Name ist.« Schmollend stülpte sie ihre rot geschminkten Lippen vor. Die Männer lachten und prosteten mir zu. Rotwein war nachgeschenkt worden.
Ich lehnte ab. Meine Augen interessierten sich nur für Puscha. Einer Königin gleich thronte sie am oberen Ende des Tisches, unterstrich ihre Sätze mit weit ausholenden Gesten, entzog dem jungen Mann, er hieß Petre, das Wort, als er sich nach meinem Wohlbefindenerkundigen wollte. Wie konnte es sein, dass sie keinerlei Anzeichen von Rührung oder Freude oder von was auch immer zeigte? Enttäuscht starrte ich sie an und begriff nicht, warum sie mich wie eine alte Bekannte behandelte. Eine Bekannte, die man lange nicht gesehen, aber auch nicht vermisst hatte. Ihr Gesicht wirkte entspannt, sie trank den Wein in kleinen Schlucken. Dennoch erhaschte ich einen Blick in ihren Gaumen, die Zunge war lilafarben, was nicht gesund aussah. Und in mir stieg die Sorge auf, sie zu verlieren. Sie sprach über alles Mögliche, nur nicht über mich und warum sie von meiner Existenz wusste, ich aber nicht von ihrer.
Entschlossen zu kämpfen, holte ich einen Mutterbrief aus der Hosentasche. Reichte ihn der Großmutter, doch die zuckte zurück, als würde ich sie mit einem stinkenden Fisch bedrohen. Misch, der ältere der beiden Männer, kam mir zu Hilfe. Laut las er den Absender vor. Dann drückte er Puscha den Umschlag in die Hand. Dabei berührte er zärtlich ihren Arm. Es war eine Liebesgeste, daran bestand kein Zweifel. Er liebte meine Großmutter, und mit einem Augenzwinkern gab er mir zu verstehen, dass ich willkommen war.
»Mach schon.«
Mit gespreizten Fingern zog Puscha endlich das zerknitterte Papier aus dem Umschlag. Sie führte es zur Nase und schnupperte daran. Wie ein Hund an einem Knochen. Da ihre Brille fehlte, stand Petre auf und eilte in den Nebenraum. Er kannte sich aus, und Misch, sein Vater, schien zu wissen, wer ich war und wer mir Briefe aus Westdeutschland schickte.
Kann man länger als drei Sekunden für das Aufsetzen einer Brille benötigen? Puscha konnte.
»Mal sehen, was da für Gescheitheiten stehen.« Wie eine Erstklässlerin, stockend, begann sie zu lesen:
In der neuen Heimat gibt es keine Semmeln, dafür Brötchen. Spitz- , Laugen- , Sesam- , Mohnbrötchen , um nur einige zu nennen. Zehn Sorten und mehr. Und zu jeder Tageszeit, nicht nur morgens.
Die Anrede hatte sie nicht vorgelesen.
Obwohl keine Tränen zu sehen waren, wischte sie sich mehrmals über die Augen. Als alles nichts half, reichte sie den Brief an Misch weiter.
»Was soll ich damit?«
»Lies!«, befahl sie in ruppigem Ton.
Also las Misch:
Stell Dir vor, man kann so viele kaufen, wie man will. Aber es regnet oft, auch tagsüber. Die Schwimmbäder machen auf, doch niemand geht hinein, sie überlassen das Wasser den Wasservögeln. Alle riechen gut, und die Taschentücher sind aus Papier, man wirft sie weg. Die Straßen sind voll von Dingen, die man brauchen kann. Ganze Kasten und schöne Sofas und fast neue Betten. Unsere Regale haben wir alle aus einem Kasten zugesägt. Weil Dein Tata eine Wohnung und Arbeit hat, musste ich nur eine Woche in Nürnberg im Lager bleiben. Beim Einkaufen im Supermarkt wird mir schwindlig. Immer gibt es Klopapier. Überhaupt gibt es alles, nie geht etwas aus. Wurst , Käse , Fleisch , wie früher, nur besser.
Ich schick Dir auch bald ein Paket.
P. S . Von dem Begrüßungsgeld, dreihundert Mark, habe ich mir ein Auto gekauft, einen Käfer. Er hat vier Räder und ein Lenkrad, keinen Kofferraum. Mit dem Mercedes lässt er mich noch nicht fahren. Gefällt es Dir bei der Eri? Warum schreibst Du nicht? Liest Du meine Briefe wenigstens, wenigstens das? Es wird am Anfang nicht leicht sein, aber Du wirst Dich –
Obwohl mein Verstand ein deutliches Verbot ausgesprochen hatte, reagierte mein Körper. Das rechte Auge füllte sich mit Tränen, mein Mund begann zu zittern. Misch las ohne Pause weiter, ohne Luft zu holen, als hätte er es eilig. Den Abschiedsgruß sparte er aus und legte den Brief rasch in das Kuvert zurück. Unter feuchten Wimpern schaute ich meine Großmutter erwartungsvoll an, doch
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