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Zusammen ist man weniger allein

Zusammen ist man weniger allein

Titel: Zusammen ist man weniger allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Gavalda
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in Ordnung? Mein Gott, aber … Was haben Sie denn mit Ihren Haaren gemacht? Oh, wie krank Sie aussehen, haben Sie … Sie sehen ganz krank aus! Und Ihre Haare? Ihre wunderschönen Haare.«
    »Ich muß los, ich bin schon spät dran.«
    »Aber es ist klirrend kalt, meine Liebe! Gehen Sie nicht ohne Kopfbedeckung, Sie holen sich den Tod. Hier, nehmen Sie wenigstens meine Kosakenmütze.«
    Camille rang sich ein Lächeln ab.
    »Hat die auch Ihrem Onkel gehört?«
    »Teufel, nein! Eher meinem Urgroßvater, der den kleinen General auf seinen Rußlandfeldzügen begleitet hat.«
    Er zog ihr die Mütze bis zu den Augenbrauen herunter.
    »Sie wollen behaupten, dieses Stück hier hätte Austerlitz mitgemacht?« mühte sie sich zu scherzen.
    »Aber gewiß! Auch Beresina, leider … Aber Sie sind ganz blaß. Sind Sie sicher, daß es Ihnen gutgeht?«
    »Ich bin ein bißchen müde.«
    »Sagen Sie, Camille, ist Ihnen da oben nicht zu kalt?«
    »Ich weiß nicht. Okay, ich … Ich muß los. Danke für die Mütze.«
     
    Eingelullt von der Hitze in der Metro schlief sie ein und wachte erst an der Endstation wieder auf. Sie setzte sich in den Gegenzug und zog sich die Bärenmütze über die Augen, um vor Erschöpfung heulen zu können. Puh, dieses alte Ding stank fürchterlich.
     
    Als sie endlich an der richtigen Haltestelle ausstieg, war die Kälte, die sie umfing, so schneidend, daß sie sich in das Wartehäuschen einer Bushaltestelle setzen mußte. Sie legte sich quer über die Sitze und bat den jungen Mann neben sich, ihr ein Taxi zu besorgen.
     
    Sie kroch auf Knien in ihr Zimmer und fiel in voller Länge auf die Matratze. Sie hatte nicht die Kraft, sich auszuziehen, und dachte eine Sekunde lang, sie würde auf der Stelle sterben. Wer würde es erfahren? Wen würde es kümmern? Wer würde um sie weinen? Sie zitterte vor innerer Hitze, und der Schweiß hüllte sie in ein eisiges Leichentuch.
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    20
     
     
     
    Philibert stand gegen zwei Uhr nachts auf, um ein Glas Wasser zu trinken. Die Fliesen in der Küche waren eiskalt, und der Wind drückte heftig gegen die Fensterscheiben. Einen Moment lang betrachtete er die verlassene Straße und murmelte Erinnerungsfetzen aus seiner Kindheit vor sich hin. Und dräut der Winter noch so sehr mit trotzigen Gebärden … Das Außenthermometer zeigte minus sechs Grad, und er konnte nicht umhin, an das kleine Persönchen da oben zu denken. Schlief sie? Und was hatte sie mit ihren Haaren gemacht, die Unglückliche?
     
    Er mußte etwas tun. Er konnte sie nicht allein lassen. Ja, aber seine Erziehung, seine guten Manieren, nicht zuletzt seine Diskretion verwickelten ihn in endlose Debatten.
    War es schicklich, eine junge Frau mitten in der Nacht zu stören? Wie würde sie reagieren? Und außerdem, vielleicht war sie gar nicht allein, wer weiß? Und wenn sie nackt war? Oh, nein. Daran wollte er lieber nicht denken. Und wie bei Tim und Struppi stritten sich Engel und Teufel auf dem Kopfkissen nebenan.
    Das heißt, die Personen waren nicht ganz dieselben.
    Ein durchgefrorener Engel sagte: »Aber sie stirbt den Erfrierungstod, die Kleine«, der andere, mit eingefalteten Flügeln, gab zurück: »Ich weiß, mein Lieber, aber das tut man nicht. Sie erkundigen sich morgen früh nach ihrem Befinden. Schlafen Sie jetzt, ich bitte Sie.«
    Er wohnte ihrem Streit bei, ohne sich daran zu beteiligen, drehte sich zehnmal um, zwanzigmal, bat um Ruhe und raubte ihnen am Ende das Kopfkissen, um sie nicht mehr hören zu müssen.
    Um drei Uhr vierundfünfzig suchte er im Dunkeln nach seinen Socken.
     
    Der Lichtstrahl unter ihrer Tür machte ihm Mut.
    »Mademoiselle Camille?«
    Dann, nur wenig lauter:
    »Camille? Camille? Ich bin’s, Philibert.«
    Keine Antwort. Er versuchte es ein letztes Mal, bevor er kehrtmachte. Als er schon am Ende des Flurs angelangt war, hörte er einen gedämpften Laut.
    »Camille, sind Sie da? Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht und ich … Ich …«
    »… Tür … offen …« stöhnte sie.
     
    Die Dachkammer war eiskalt. Er kam kaum durch die Tür, wegen der Matratze, und stolperte über einen Haufen Tücher. Er kniete sich hin. Hob eine Decke hoch, dann eine zweite, dann eine Steppdecke und stieß schließlich auf ihr Gesicht. Sie war triefnaß.
    Er legte ihr die Hand auf die Stirn:
    »Sie glühen ja wie vor Fieber! So können Sie nicht bleiben.

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