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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sennett Richard
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Bemerkung »Professor, Ihr hoher Ton klingt ein wenig scharf« eröffnete solch einen dialogischen Austausch im Rahmen der Proben für das Schubert-Oktett. Bachtin wendete das Konzept des ineinander verwobenen, aber divergierenden Austauschs auf Autoren wie Rabelais und Cervantes an, deren Dialoge genau das Gegenteil der auf einen Konsens ausgerichteten Dialektik darstellen. Bei Rabelais steuern die Figuren in scheinbar irrelevante Richtungen, die von anderen Figuren aufgegriffen werden. Dann verdichtet sich die Diskussion, und die Figuren feuern sich gegenseitig an. 24 In großen Kammermusikdarbietungen findet sich gelegentlich etwas Ähnliches. Es scheint, die Musiker befänden sich nicht ganz auf demselben Blatt, die Darbietung besitzt mehr Textur und größere Komplexität, und dennoch feuern die Musiker sich gegenseitig an – wie es in der klassischen Kammermusik, aber auch im Jazz geschieht.
    Natürlich geht es beim Unterschied zwischen dialektischer und dialogischer Konversation nicht um ein Entweder-oder. Wie in dem von Zeldin beschriebenen dialektischen Gespräch resultiert auch in der dialogischen Konversation der Fortgang des Gesprächs daraus, dass die Beteiligten ihre Aufmerksamkeit auf nicht ausgesprochene Implikationen richten. Ähnlich wie beim listigen »mit anderen Worten« des Sokrates können Missverständnisse in einem dialogischen Gespräch am Ende zu gegenseitigem Verständnis führen. Doch die Fähigkeit des Zuhörens hat ihren Kern in der Bereitschaft, konkrete Details und Eigenheiten aufzugreifen, um das Gespräch voranzutreiben. Schlechte Zuhörer greifen in ihrer Reaktion zu Verallgemeinerungen. Sie achten nicht auf die scheinbar unbedeutenden Sätze, den Gesichtsausdruck oder das Schweigen, die ein Gespräch eröffnen. Im Gespräch wie in der musikalischen Probe baut sich der Austausch von unten nach oben auf.
    Unerfahrene Anthropologen und Soziologen können bei Gesprächen auf ähnliche Probleme stoßen. Sie sind manchmal allzu sehr darauf bedacht, auf ihren Gesprächspartner zu reagieren, und folgen ihm, wohin er sie auch führen mag. Sie argumentieren nicht, sondern möchten zeigen, dass sie empfänglich sind und großen Wert auf die Aussagen ihrer Gesprächspartner legen. Hier zeigt sich ein ernstes Problem. Man kann dialogische Gespräche durch allzu große Identifikation mit dem Gesprächspartner auch ruinieren.

Sympathie und Empathie

    Achtsamkeit gegenüber anderen erscheint uns meist als eine Frage der Sympathie, das heißt der Identifikation mit ihnen. Wie der amerikanische Präsident Bill Clinton einmal sagte: »Ich fühle Ihren Schmerz.« Adam Smith schrieb in seiner Theorie der ethischen Gefühle : »Damit eine gewisse Übereinstimmung der Empfindungen zwischen dem Zuschauer und dem zunächst Betroffenen zustande komme, muß der Zuschauer in allen derartigen Fällen vor allem sich bemühen, so sehr er kann, sich in die Lage des anderen zu versetzen und jeden noch so geringfügigen Umstand des Unglücks nachzufühlen, der möglicherweise jenem begegnen kann.« 25 Besonderen Nachdruck legt Smith auf das biblische Gebot, andere so zu behandeln, wie man selbst von ihnen behandelt werden möchte. Der Mensch soll sich selbst im anderen sehen, und zwar nicht nur allgemein als einen Mitmenschen, sondern in jenen »geringfügigen Umständen«, die tatsächlich oft von den eigenen konkreten Erfahrungen abweichen. Nach Ansicht von Smith vermag die Einbildungskraft solche Barrieren zu überwinden. Sie vermag einen magischen Sprung vom Unterschied zur Ähnlichkeit zu vollziehen, so dass eine seltsame oder fremde Erfahrung unsere eigene zu sein scheint. Dann können wir uns mit ihnen identifizieren und mit ihren Bemühungen sympathisieren.
    Viele unerfahrene sozialwissenschaftliche Interviewer lassen sich von einer augenblicklichen, generalisierten Sympathie Clinton’scher Art leiten, mit schlimmen Folgen. Das von Smith empfohlene mühevolle Einfühlen in die Besonderheiten fremder menschlicher Erfahrung bleibt hier aus. Genauso wenig hilft das »Ich fühle Ihren Schmerz« Musikern, besser zusammenzuspielen. Sinnvoller für Interviewer und Musiker ist da schon etwas anderes, nämlich Empathie.
    Bei einer Probe stellt ein Streicher vielleicht fest, dass seine Kollegen eine Tonfolge ganz anders hören als er selbst und deshalb mit ihrem Bogen anders phrasieren. Er bemerkt den Unterschied. Die sympathische Reaktion bestünde darin, sich mit den anderen Musikern zu identifizieren und sie

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