Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
dialektische Argumentation, sehr viel besser als in der Gestaltung der zweiten, der dialogischen Diskussion. Dieser Unterschied zeigt sich sehr deutlich in den neuesten technischen Formen der Kooperation.
Online-Kooperation
Wie vielen Menschen meines Alters fällt mir die Online-Kommunikation nicht ganz leicht. Wenn ich Briefe schreibe, nehme ich mir viel Zeit und überlege mir, was ich schreibe, so dass ich nicht viele Briefe verfasse. Die Flut von E-Mails, die ich jeden Tag erhalte, ist schon aufgrund ihrer schieren Zahl entmutigend. Umgekehrt erscheint ein in schriftlicher Form online geführtes Gespräch peinigend langsam im Vergleich zu einem direkten oder am Telefon geführten. Dennoch haben neue Kommunikationstechnologien die Kommunikationslandschaft nachhaltig verändert.
Ihre stärkste politische Wirkung entfalten diese neuen Technologien, wenn sie Menschen bewegen, offline zu handeln statt nur vor dem Bildschirm zu sitzen. Erstaunlicherweise können Kurznachrichten und SMS diese Wirkung haben, wie wir bei den Volkserhebungen in Tunesien und Ägypten 2011 beobachten konnten. Durch Kurznachrichten erfuhren die Menschen, wo gerade wichtige Dinge geschahen oder wer daran beteiligt war. Die Menschen strömten auf Plätzen, vor Regierungsgebäuden oder Kasernen zusammen, um zu beraten, was sie als Nächstes tun sollten. Die Kurznachricht ist allzu stark komprimiert oder zu kurz, um eine politische Analyse vorzutragen. Bilder auf Facebook haben eine ähnlich komprimierte Wirkung. Sie zeigen die entscheidenden Ereignisse und verbinden sie mit der dringenden Aufforderung: »Kommt her!« Wenn Kommunikation in dieser Weise funktioniert, wird aus komprimierter Kommunikation die massenhafte physische Anwesenheit von Menschen. Aus Online-Kooperation wird Kooperation in Fleisch und Blut.
Wie steht es um die Online-Kommunikation? Besitzt der Austausch dort eine ähnlich dynamische Kraft? Um das herauszufinden, beteiligte ich mich an einer Betatest-Gruppe zur Erprobung von Google Wave, einem Programm, das eigens für ernsthafte Online-Kooperation bestimmt war. Frisch ausgepackt, machte das Programm einen guten Eindruck. Es sollte die Möglichkeit bieten, Ideen und Beiträge in klarer Form auf dem Bildschirm erscheinen zu lassen, und es versuchte, offen zu sein, so dass die Beteiligten problemlos etwas hinzufügen oder das Projekt selbst im Laufe der Zeit verändern konnten. Eine alte Renaissanceidee von einer Experimentierwerkstatt schien mit Google Wave seinen Platz im Cyberspace gefunden zu haben. Doch dem Versuch war kein Erfolg beschieden. Google Wave blieb nur ein Jahr lang, von 2009 bis 2010 , im Netz, bevor das Unternehmen es für gescheitert erklärte und schloss.
Die Google-Wave-Gruppe, der ich angehörte, versuchte Informationen über die Zuwanderung nach London zu sammeln und eine Politik für diesen Bereich zu entwickeln. Die Daten, die wir zu interpretieren hatten, bestanden aus Statistiken, transkribierten Interviews, Fotografien und Filmen über Immigrantengruppen sowie aus Karten, die zeigten, aus welchen Ländern die Menschen kamen und wo sie sich innerhalb Londons niederließen. Die Teilnehmer lebten über ganz London, Großbritannien und Europa verstreut. Wir posteten, lasen und chatteten alle paar Tage.
Unser Projekt ging insbesondere der Frage nach, weshalb in muslimischen Einwandererfamilien die zweite Generation eher unzufrieden mit ihrer neuen Heimat ist als die erste Generation, die selbst den Schritt nach England gewagt hatte. Wir hatten jedoch auch ein technisches Problem zu lösen. Statistiker und Ethnographen messen Unzufriedenheit auf unterschiedliche Weise. Statistiker verweisen auf Mobilitätspfade in Bildung und Beruf, die den Betroffenen versperrt sind, während die Jungen nach den Befunden der Ethnographen die Orte und Lebensweisen, die ihre Eltern hinter sich gelassen haben, idealisieren, und zwar unabhängig von der aktuellen Lebenssituation. Noch weiter kompliziert wurde die Sache durch den Umstand, dass der staatliche Förderer des Projekts, der sich Sorgen über eine »Entfremdung« muslimischer Jugendlicher machte, wissen wollte, welche politischen Maßnahmen man ergreifen sollte. Konnte Online-Kooperation für all das eine Lösung finden?
Das Projekt verfolgte ein ganz anderes Ziel als die sozialen Online-Netzwerke, auch wenn beide dieselbe Grundtechnologie verwendeten. Wir wollten keine »Freunde« finden und brauchten uns keine Sorgen wegen der Verletzung der Privatsphäre
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