Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
besagt, dass Kooperation der Individuation vorausgeht. Kooperation ist die Grundlage der menschlichen Entwicklung, insofern wir zuerst lernen, zusammen zu sein, und erst dann, für uns allein zu stehen. 17 Man könnte sagen, das sei nur allzu selbstverständlich. Wir können uns unmöglich in der Isolation zu Individuen entwickeln. Das heißt aber, dass wir gerade durch die Missverständnisse, die Abgrenzung, die Übergangsobjekte und die Selbstkritik, die im Verlaufe der Entwicklung auftreten, erproben, wie wir Beziehungen zu anderen Menschen aufzunehmen vermögen, und nicht, wie wir uns einigeln können. Wenn die soziale Bindung das Primäre ist, verändern sich deren Bedingungen bis zu dem Zeitpunkt, da das Kind in die Schule kommt.
Das ist eine Möglichkeit, wie Kooperation sich zu entwickeln beginnt. Ich bin mir sicher, alle Eltern können ganz eigene Geschichten vom Heranwachsen ihrer Kinder erzählen. Meine Geschichte stellt die Tatsache in den Vordergrund, dass es zur Aufnahme von Beziehungen zu anderen Menschen gewisser Fertigkeiten bedarf. Wenn Kinder besser kooperieren, verflechten sich soziale und kognitive Fähigkeiten miteinander. Ich habe hier zwei Fähigkeiten angesprochen: Experimentieren und Kommunizieren. Experimentieren heißt, neue Dinge auszuprobieren, und mehr noch, diese Veränderungen im Laufe der Zeit zu strukturieren. Junge Menschen lernen das durch ausgedehntes repetitives Üben. Die frühe Kommunikation ist vieldeutig, etwa wenn das Kleinkind mehrdeutige Hinweise aussendet. Wenn dann Kinder Spielregeln aushandeln können, sind sie auch in der Lage, über Mehrdeutigkeiten zu verhandeln und diese aufzulösen. Eriksons Grundgedanke, wonach Selbstbewusstsein im Kontext des Experimentierens und Kommunizierens entsteht, erscheint mir jedenfalls schlüssig. Ich folge auch Alison Gopnik, wenn sie hervorhebt, dass die frühkindliche Entwicklung in einer Erprobung von Möglichkeiten besteht.
Ganz gleich, welches Bild von der kindlichen Entwicklung Sie haben, dürften Sie feststellen, dass es unter diesen Umständen nicht leicht ist, kooperieren zu lernen. Diese Schwierigkeit ist in gewisser Weise positiver Art. Kooperation ist eine mühsam erworbene und keine gedankenlos erlebte Erfahrung. Wie auch in anderen Lebensbereichen schätzen wir Dinge, für die wir haben kämpfen müssen. So stellt sich die Frage, wie denn Erproben und Üben die Grundlage für komplexe Kooperation im späteren Leben zu legen vermag.
Dialogik
»Menschen, die nicht beobachten, können auch kein Gespräch führen.« 18 In dieser klugen Bemerkung eines englischen Rechtsanwalts zeigt sich das Wesen der »Dialogik«. Der technische Ausdruck meint Aufmerksamkeit und Empfänglichkeit für andere Menschen. Insbesondere lenkt das Bonmot des Anwalts die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des Zuhörens für das Gespräch. Wenn wir über Kommunikationsfähigkeit reden, legen wir das Schwergewicht meist auf die Fähigkeit, klar und verständlich vorzutragen, was wir denken und fühlen. Dazu bedarf es tatsächlich gewisser Fähigkeiten, doch die sind deklarativen Charakters. Zuhören erfordert eine Reihe anderer Fähigkeiten. Hier gilt es, genau darauf zu achten, was andere sagen, und es zu interpretieren, bevor man antwortet, und zwar die Gesten und Sprechpausen ebenso wie das explizit Gesagte. Obwohl wir uns möglicherweise zurückhalten müssen, um beobachten zu können, wird das Gespräch dadurch reicher, kooperativer, dialogischer.
Proben
Ein verbreitetes Laster ist der Glaube, unsere eigene Erfahrung habe großen symbolischen Wert, und auf den nächsten Seiten will ich mich diesem Laster einmal hingeben. Ein Modell für die Fähigkeiten des Zuhörens bieten die Proben, wie sie im Bereich der darstellenden Künste benötigt werden. Dieses Modell kenne ich gut. Als junger Mann arbeitete ich als Berufsmusiker, und zwar als Cellist und als Dirigent. Proben sind die Grundlage des Musizierens. Bei den Proben von Musikern haben die Fähigkeiten des Zuhörens entscheidende Bedeutung, und der Musiker, der gut zuhört, wird kooperativer.
In den darstellenden Künsten kann sich das schiere Angewiesensein auf andere als Schock erweisen. Junge musikalische Talente sind oft ratlos, wenn sie zum ersten Mal Kammermusik spielen. Nichts hat sie darauf vorbereitet, auf andere achten zu müssen. (Mir erging es so mit zehn Jahren.) Obwohl sie ihren Part perfekt beherrschen, müssen sie in den Proben die für das Ich so wenig erfreuliche Kunst
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