Zwanghafte Gier
ist alles wieder an seinem Platz, selbst Dinge, die weit zurückliegen und die vielleicht jener Tat den Weg bereitet hatten, durch die sie in den Besitz dieses Hauses gelangt war.
Das ist eine andere Art von Zwang.
Der Zwang, etwas haben zu müssen.
Plötzlich erinnert sie sich: Als sie noch sehr jung und mit Ann Mackeson befreundet gewesen war, die nebenan gewohnt hatte, hatte sie deren Spielsachen haben wollen. Viele Kinder entwickeln diese Art von Neid – das weiß Frankie –, und manchmal bestehlen sie andere Kinder, doch nun fragt sie sich, wie viele Dinge ein solch verzweifeltes Verlangen hervorrufen, wie sie selbst es im Fall von Ann Mackesons Spielsachen verspürt hatte. Sie hatte das Gefühl gehabt, wenigstens ein paar davon besitzen zu müssen ... und dass etwas Schreckliches passieren würde, sollte sie diese Dinge nicht bekommen.
Mussichhaben.
Schon damals, als Kind, war Frankie das immer wieder im Kopf herumgegangen: Mussichhaben, mussichhaben ...
Und dann war da der Nagel gewesen.
Frankie schaudert.
Und da ist eine Erinnerung, die zu vergessen sie immer besonders intensiv versucht hat – eine Episode aus den frühen Chroniken der irren Frankie, die ihr auch jetzt noch den Magen umdreht. Allein bei dem Gedanken daran dröhnt ihr der Kopf.
Es ist die Erinnerung an jenen Tag in ihrer frühen Teenagerzeit, als sie ins Kino gegangen war, um sich einen Film über Jesus anzusehen, und danach hatte sie sich gefragt, wie es sich wohl anfühlen mochte, wenn einem ein Nagel durch die Hand getrieben wurde. Und da Frankie nun einmal Frankie ist und war, zog sie los, um sich eine Schachtel Nägel zu kaufen. Davon kochte sie dann den, den sie benutzen wollte, ab. Der Anblick ihres eigenen Blutes ließ sie ohnmächtig werden, noch bevor sie den Schmerz wirklich spüren konnte. Vielleicht hatte sie ja eine Schlagader getroffen – sie weiß gar nicht, ob ein Mensch Schlagadern in der Hand hat –, aber wäre das der Fall gewesen, wäre sie in der Ohnmacht vermutlich verblutet.
Jetzt denkt Frankie, dass es vermutlich besser so gewesen wäre.
93
Je weiter er Bolin folgte, der landeinwärts zunächst nach Saltdean Vale fuhr und dann wieder kehrtmachte in Richtung South Coast Road, desto deutlicher wurde Jude, dass der andere Mann nicht wirklich wusste, wohin er fuhr.
Das Unwetter hatte wieder an Intensität zugenommen. Es schien sich seine Kraft aus der drohenden Schwärze über dem Kanal zu holen. Die Blitze wurden immer beeindruckender, und der Donner kam näher und näher. Regen strömte über die Windschutzscheibe des Honda und prasselte dröhnend auf das Dach, während Bolin durch Peacehaven raste, wo die A 259 in die Brighton Road überging, die dann nach Newhaven führte.
»Beachy Head«, sagte Jude unvermittelt und laut. Das war seine erste eindeutige Vermutung, was das Ziel des anderen Mannes betraf.
Der Regen wurde immer stärker, und Jude schaltete die Scheibenwischer auf doppelte Geschwindigkeit und kniff die Augen zusammen, um die Straße vor sich besser sehen zu können.
Schon zu Beginn, kaum dass ihm wirklich bewusst geworden war, dass er tatsächlich einem anderen Mann folgte, hatte Jude sich daran erinnert, dass die Polizei in Film und Fernsehen stets darauf bedacht war, ein bis zwei Fahrzeuge zwischen sich und dem Beschatteten zu halten. Aber um vier Uhr morgens und auf diesen nahezu vollkommen verlassenen Straßen war das leichter gesagt als getan, was bedeutete, dass Jude so weit wie möglich zurückbleiben musste, damit Bolin ihn nicht bemerkte – und das wiederum hieß, dass er ständig Gefahr lief, den Toyota aus den Augen zu verlieren.
Gute Idee , würde Alex vermutlich sagen, wenn sie hier bei ihm wäre. Andererseits – wäre sie schon früher da gewesen, würden sie sich nun vermutlich im Bett aneinander kuscheln, entweder in der Wohnung in der Union Street oder im Melton Cottage. Jude wünschte sich, er hätte auf Alex’ Vorschlag gehört und Roz Baileys Haus schlicht vergessen ...
Bald war Jude an Newhaven und seinem halb komatösen Hafen vorbei. Die Einbahnstraßen nahe der Docks waren glatt von Oberflächenwasser, und die daran anschließende Seaford Road war stockfinster, bis sie in den Buckle Bypass überging und wieder städtischer wurde. Hier war es auch wieder ein wenig geschäftiger, bevor es in die Eastbourne Road ging, die im Zuge allgemeiner Sanierungen erst einmal sämtlicher Gebäude beraubt worden war. Der Seven Sisters Country Park, der bei Tageslicht so
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