Zwanghafte Gier
Bolin nicht mehr zurückkam, um das Tor wieder zu schließen; dann ging er dorthin und sah, dass die Straße dahinter aus hellem Beton und gut zu erkennen war. Die Lichter des Toyota bewegten sich langsam auf dieser Straße in die Dunkelheit hinein.
Jude machte sich wieder an die Verfolgung.
96
»Du verstehst es immer noch nicht«, sagte David Maynard zu Alex.
»Hast du das erwartet?«
Auch der letzte Rest Mitgefühl war schon vor einer Weile verschwunden – in dem Augenblick, als David versucht hatte, ihr von der Physiotherapeutin zu erzählen ...
... der anderen Frau.
»Ich will es gar nicht wissen«, war Alex ihm mit schroffer Stimme ins Wort gefallen und hatte seine Bemühungen damit zunichte gemacht. »Ich bin an ihr nicht interessiert ... oder an dir, wo wir schon dabei sind. Jetzt nicht mehr.«
»Schon gut«, hatte David mit einem Seufzen erwidert und dann geschwiegen.
»Willst du Suzy wieder zurückhaben?«, fragte Alex ihn nun.
»Natürlich«, antwortete er.
»Ist es vorbei?«
David zögerte nur kurz. »Ja.«
Zu lange.
»Ich glaube dir nicht«, sagte Alex.
»Suzy auch nicht«, entgegnete David.
97
Diese neuerliche Verfolgung war schlimm. Jude war zu Fuß unterwegs; der Regen prasselte ihm auf den Kopf, und kaltes Wasser lief ihm in die Augen und in den Kragen seiner Lederjacke. Er fragte sich, ob Bolin schon von Anfang an hierher hatte kommen wollen ... Aber wenn dem so war, warum hatte er dann so viel Zeit mit meilenlangen Umwegen vergeudet? War Cuckmere Haven von Anfang an ein Ziel auf der Liste gewesen, oder war Bolin einfach einer Regung gefolgt, als er zum zweiten Mal in dieser Nacht daran vorbeigefahren war?
Dann kam Jude eine weitere Möglichkeit in den Sinn, als er die Straße hinunterstapfte, die parallel zum Fluss verlief. Er hielt sich so weit wie möglich am Rand der hellen Fahrbahn, um nicht von Bolin entdeckt zu werden. Hatte Bolin vielleicht bemerkt, dass er verfolgt wurde? Hatte er von Anfang an nur mit Jude gespielt?
Jude kam zu dem Schluss, dass das eher unwahrscheinlich war. Er wischte sich den Regen aus den Augen und sah, dass der Toyota bereits so weit weg war, dass er nur noch die Scheinwerfer im Regen sehen konnte. Das war vermutlich sicherer, als zu nahe dran zu sein; doch wenn der Pick-up einen zu großen Vorsprung bekam, würde Bolin vielleicht schon mit seiner Mission fertig sein, bevor Jude ihn einholen konnte.
Was für eine Mission mochte das sein?
Eine Leiche verschwinden zu lassen vielleicht ...
Kehr um.
Das wäre mit Abstand das Vernünftigste gewesen, hätte Jude auch nur einen Funken gesunden Menschenverstand besessen.
Es war ohnehin unmöglich, Bolin jetzt noch einzuholen.
Doch falls es sich bei dem Bündel wirklich um eine Leiche handelte, und falls Jude nur umkehrte, um wieder ins Warme und Trockene zu kommen, oder wenn er auch nur anhielt, um der Polizei seinen Verdacht mitzuteilen, dann – davon war er überzeugt – war das Risiko um ein Vielfaches größer, dass niemand je erfahren würde, was Bolin getan hatte.
Trotzdem war es verrückt weiterzugehen.
Würdest du nur einen Funken Verstand besitzen, wärst du gefährlich.
Das war eine der typischen Redewendungen seines Stiefvaters gewesen.
Und damit hatte er verdammt recht gehabt.
Jetzt gibt es kein Zurück mehr.
Jude ermahnte sich zur Konzentration.
Er erinnerte sich, dass sein Freund einmal gesagt hatte, ein Spaziergänger könne hier das Meer leicht in dreißig bis fünfundvierzig Minuten erreichen, was bedeutete, dass der Pick-up nur sehr wenig Zeit brauchte.
Jude schätzte, dass er inzwischen gut fünfzehn Minuten zu Fuß unterwegs war.
»Verdammt«, murmelte er. »Lauf schneller.«
98
Alex hätte gesagt, dass sie und David in einer Sackgasse steckten. Doch sie waren weniger in einer Sackgasse – sie waren eher in dem Augenblick kollidiert, da Suzy ihr von der Affäre erzählt hatte.
Bis jetzt hatte Alex sich nie als unversöhnlichen Menschen betrachtet, obwohl sie natürlich immer gewusst hatte, dass es Dinge gab, die man nicht verzeihen konnte.
Aus Davids Blickwinkel war das vielleicht anders, doch aus ihrer Sicht war die Situation glasklar. Suzy war nicht nur ihre beste Freundin und Verwandte, sie war auch ein ganz besonderer, mutiger und loyaler Mensch, und Alex würde gegen jeden kämpfen, der es wagte, Suzy wehzutun.
Nur hätte sie nie geglaubt, dass ausgerechnet David zu so etwas fähig sein würde.
Er hatte noch einmal versucht, Alex von seiner Geliebten zu
Weitere Kostenlose Bücher