Zwei an Einem Tag
ich Candy erklärt hatte, wer Virginia Woolf war, hat sie gesagt, sie will sie unbedingt spielen, aber nur, wenn sie ihr Oberteil ausziehen darf, das Casting wäre also schon erledigt. Ich spiele Emily Dickinson, behalte mein Top aber an. Ich lege dir Karten zurück.
In der Zwischenzeit muss ich mich entscheiden, ob ich in Leeds oder London einen Job annehmen soll. Die Qual der Wahl. Ich wollte eigentlich nicht nach London ziehen – das ist so was von VORHERSEHBAR – aber meine ehemalige Mitbewohnerin Tilly Killick (erinnerst du dich? Große rote Brille, kompromisslose Ansichten, Koteletten?) hat ein freies Zimmer in Clapton. Sie nennt es ihre »Abstellkammer«, was nichts Gutes ahnen lässt. Wie ist Clapton denn so? Kommst du bald zurück nach London? Hey! Vielleicht können wir ja zusammenziehen?
»Zusammenziehen?« Emma hielt inne, schüttelte den Kopf, stöhnte auf und schrieb dann: »Nur Spaß!!!!« Wieder stöhnte sie auf. »Nur Spaß« schrieb man nur, wenn man jedes Wort ernst gemeint hatte. Zu spät, um es durchzustreichen, aber wie sollte sie den Brief beenden? »Mit freundlichen Grüßen« war zu förmlich, »Tous mon amour« zu affektiert, »In Liebe« zu kitschig, und plötzlich stand auch schon wieder Gary Nutkin im Türrahmen.
»Okay, alle auf die Plätze!« Bekümmert hielt er ihnen die Tür auf, als führte er sie vor ein Erschießungskommando, und hastig, bevor sie es sich anders überlegen konnte, schrieb sie:
Gott, du fehlst mir, Dex
– unterschrieb und drückte einen dicken Kuss auf das hellblaue Luftpostpapier.
An der Piazza della Rotonda saß Dexters Mutter an einem Cafétisch, ein Buch locker in der Hand, die Augen geschlossen, den Kopf in den Nacken gelegt und leicht zur Seite geneigt wie ein Vogel, der die letzten Strahlen der Nachmittagssonne genießt. Anstatt direkt zu ihr zu gehen, setzte sich Dexter einen Moment zwischen die Touristen auf die Stufen des Pantheons und beobachtete, wie der Kellner auf sie zuging, den Aschenbecher vom Tisch nahm und sie aufschreckte. Beide lachten, und an ihrer theatralischen Mimik und Gestik konnte er erkennen, dass sie ihr schreckliches Italienisch sprach, als sie dem Kellner kokett den Arm tätschelte. Der Kellner, der offenbar kein Wort verstand, grinste trotzdem, flirtete zurück und drehte sich im Gehen noch einmal nach der wunderschönen englischen Frau um, die ihn am Arm berührt und unverständliches Zeug gefaselt hatte.
Dexter nahm alles in sich auf und lächelte. Die alte Freud’sche Vorstellung, die man ihm zuerst im Internat zugeflüstert hatte, dass Jungen in die Mutter verliebt seien und ihre Väter hassten, erschien ihm völlig logisch. Jeder, den er kannte, war in Alison Mayhew verliebt. Aber das Beste war, dass er seinen Vater auch wirklich gern hatte; in dieser wie in fast jeder Hinsicht war sein Glück ungetrübt.
Oft hatte er seinen Vater dabei ertappt, wie er Alison mit seinen Bluthund-Augen voll stummer Bewunderung anstarrte, wenn sie beim Abendessen in dem weitläufigen, üppigen Garten des Hauses in Oxfordshire saßen oder wenn sie im Frankreich-Urlaub in der Sonne schlief. Der fünfzehn Jahre ältere, große, introvertierte Stephen Mayhew mit dem langen Gesicht schien diesen einmaligen Glücksfall kaum fassen zu können. Bei den Partys, die sie häufig gab, auf denen Dexter ganz still dasaß, um nicht ins Bett geschickt zu werden, konnte er beobachten, wie die Männer sich in einem gehorsamen, ergebenen Kreis um sie scharten; intelligente, gebildete Männer, Ärzte, Anwälte und Radiosprecher benahmen sich wie verliebte Teenies. Er sah, wie sie mit einem Cocktailglas in der Hand, beschwipst und selbstvergessen, zu frühen Roxy-Music-Alben tanzte, während die anderen Frauen zusahen und neben ihr hoffnungslos plump und schwer von Begriff wirkten. Auch Schulfreunde, selbst die coolen, komplizierten, verwandelten sich in Gegenwart von Alison Mayhew in Cartoonfiguren, flirteten mit ihr, während sie zurückflirtete, zogen sie in Wasserschlachten hinein und lobten ihre haarsträubenden Kochkünste – die totgerührten Rühreier, der schwarze Pfeffer, der eigentlich Zigarettenasche war.
Früher hatte Alison in London Modedesign studiert, leitete heute das örtliche Antiquitätengeschäft und verkaufte dem vornehmen Oxford mit beachtlichem Erfolg teure Teppiche und Kronleuchter. Sie hatte immer noch etwas von der Aura einer Berühmtheit aus den Sechzigern – Dexter hatte die Fotos und Ausschnitte aus verblichenen
Weitere Kostenlose Bücher