Zwei an Einem Tag
Farbbeilagen gesehen –, hatte all das aber ohne sichtbare Traurigkeit oder Bedauern gegen ein zutiefst respektables, sicheres, bequemes Familienleben eingetauscht. Typischerweise hatte sie anscheinend genau den richtigen Moment gewählt, um die Party zu verlassen. Dexter hatte den Verdacht, dass sie hin und wieder Affären mit den Ärzten, Anwälten und Radiosprechern hatte, konnte ihr deshalb aber nicht ernstlich böse sein. Und die Leute sagten immer das Gleiche – dass er es von ihr geerbt hatte. Niemand sagte genau, was »es« eigentlich war, aber alle schienen es zu wissen: blendendes Aussehen natürlich, Energie, gute Gesundheit und außerdem ein gewisses lässiges Selbstvertrauen, das Recht, im Mittelpunkt, auf der Gewinnerseite zu stehen.
Selbst jetzt, als sie im verwaschenen blauen Sommerkleid dasaß und auf der Suche nach Streichhölzern in der voluminösen Handtasche wühlte, schien das Leben auf der Piazza sich nur um sie zu drehen. Kluge braune Augen in einem herzförmigen Gesicht unter einer Mähne kostspielig zerzausten schwarzen Haars, das Kleid einen Tick zu weit aufgeknöpft, makellos unordentlich. Sie sah ihn kommen, und ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
»Eine Dreiviertelstunde Verspätung, junger Mann. Wo hast du gesteckt?«
»Ich habe von da drüben zugeguckt, wie du den Kellner aufreißt.«
»Kein Wort zu deinem Vater.« Sie stieß mit der Hüfte an den Tisch, als sie aufstand und ihn umarmte. »Und wo warst du nun wirklich?«
»Hab Unterricht vorbereitet.« Sein Haar war noch feucht vom Duschen mit Tove Angstrom, und als seine Mutter es ihm aus dem Gesicht strich und ihm zärtlich die Hand auf die Wange legte, bemerkte er, dass sie schon leicht angetrunken war.
»Du bist ganz zerzaust. Wer war das? Was hast du wieder angestellt?«
»Hab ich doch gesagt, Unterricht vorbereitet.«
Skeptisch zog sie einen Schmollmund. »Und wo warst du gestern Abend? Wir haben im Restaurant auf dich gewartet.«
»Tut mir leid, bin aufgehalten worden. Discoabend in der Schule.«
»Eine Disco . Sehr 70er-Jahre. Und wie wars?«
»200 betrunkene, skandinavische Mädchen beim Vogue -en.«
»› Vogue -en‹. Zum Glück habe ich keine Ahnung, was das ist. Hats Spaß gemacht?«
»Es war die Hölle.«
Sie tätschelte ihm das Knie. »Mein armer, armer Schatz.«
»Wo ist Dad?«
»Er musste ins Hotel zurückgehen, um sich etwas hinzulegen. Die Hitze, und seine Sandalen haben gedrückt. Du kennst ja deinen Vater, ein typischer Waliser .«
»Und was habt ihr gemacht?«
»Wir sind nur ein bisschen ums Forum gewandert. Ich fand es wunderschön, aber Stephen hat sich zu Tode gelangweilt. So eine Unordnung, überall liegen Säulen herum. Ich glaube, seiner Meinung nach sollte man alles einstampfen und stattdessen ein nettes Gewächshaus errichten oder so.«
»Du solltest dir den Palatin mal ansehen. Da oben auf dem Hügel …«
»Ich weiß, wo der Palatin ist, Dex, ich war schon in Rom, bevor du geboren wurdest.«
»Ja, und wer war damals Kaiser?«
»Ha. Hier, hilf mir mal mit dem Wein, lass mich nicht die ganze Flasche allein austrinken.« Das hatte sie schon fast, aber er goss den Rest in ein Wasserglas und schnappte sich ihre Zigaretten. Alison schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Weißt du, manchmal glaube ich, wir haben es mit der liberalen Erziehung übertrieben.«
»Eindeutig. Dank euch bin ich ein Wrack. Gib mir mal die Streichhölzer.«
»Rauchen ist nicht klug, weißt du. Klar, du glaubst, du siehst aus wie ein Filmstar, aber in Wirklichkeit sieht es furchtbar aus.«
»Weshalb machst du es dann?«
»Weil ich dadurch sensationell aussehe.« Sie steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, und er zündete sie ihr mit dem Streichholz an. »Ich höre sowieso auf. Das hier ist meine letzte. Jetzt aber fix, dein Vater ist gerade nicht da …« Verschwörerisch beugte sie sich vor. »Erzähl mir was über dein Liebesleben.«
»Nein!«
»Jetzt komm schon, Dex! Du weißt, ich bin gezwungen, mein Leben stellvertretend durch meine Kinder zu leben, und deine Schwester ist so was von verklemmt …«
»Bist du betrunken, Mutter?«
»Keine Ahnung, wie sie zwei Kinder zustande gebracht hat …«
»Du bist hinüber.«
»Ich trinke nicht, verstanden?« Als Dexter zwölf war, hatte sie ihn eines Abends ernst in die Küche geführt und ihm leise erklärt, wie man einen trockenen Martini mixt, als sei es ein feierlicher Ritus. »Komm schon. Her mit den schmutzigen
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