Zwei bemerkenswerte Frauen
Wollcape fest um mich zog, wusste ich, dass der Aufenthalt im zugigen Treppenhaus meinem geschwächten Brustkorb nicht guttat. Trotzdem konnte ich in diesem wichtigen Moment nicht gehen.
Reverend Conybeare kam sofort auf das verblüffendste Merkmal des Plesiosauriers zu sprechen – seinen extrem langen Hals. «Die Länge des Halses entspricht der von Rumpf und Schwanz zusammen», erklärte er. «Er hat mehr Wirbel als selbst der längste Vogelhals und übertrifft sogar den des Schwans. Damit weicht diese Kreatur von den Gesetzen ab, die bislang für Vierfüßler als allgemein gültig galten. Ich erwähne dieses besonders auffällige und interessante Merkmal der jüngsten Entdeckung schon so früh, weil die Geologie mit diesem Tier einen der bemerkenswertesten und wichtigsten Beiträge ihrer Geschichte zur vergleichenden Anatomie macht.»
Im Folgenden schilderte er das Tier im Detail. Mittlerweile konnte ich meine Hustenanfälle kaum noch unterdrücken, weshalb Johnny in die Küche hinabging, um mir ein Glas Wein zu holen. Was es dort zu sehen gab, schien ihm besser zu gefallen als das, was es oben auf der Treppe zu hören gab, denn nachdem er mir ein Glas Claret gereicht hatte, verschwand er wieder nach unten. Wahrscheinlich setzte er sich ans warme Herdfeuer und übte mit den für den Abend eingestellten Dienstmädchen das Flirten.
Reverend Conybeare beschrieb inzwischen Kopf und Wirbel des Tiers und führte, ähnlich wie es Monsieur Cuvier in seiner Kritik an Mary getan hatte, zum Vergleich die Wirbelzahlen verschiedener anderer Tiere an. Einige Male erwähnte er Cuvier sogar en passant und bestätigte somit in seinem Vortrag den wichtigen Einfluss des Franzosen. Kein Wunder, dass Cuviers Reaktion auf Marys Brief Reverend Conybeare so schockiert hatte. Doch mochte die Anatomie des Plesiosauriers auch noch so ungewöhnlich sein – es hatte ihn gegeben. Wenn Conybeare an diese Kreatur glaubte, musste er auch an Marys Funde glauben. Für mich lag es auf der Hand, dass er Cuvier am besten vom Plesiosaurier überzeugen konnte, indem er sich für Mary verwendete.
Doch für Conybeare war das leider nicht so klar. Schlimmer noch, er tat genau das Gegenteil. Mitten in der Beschreibung der Plesiosaurierflossen machte Reverend Conybeare plötzlich eine Nebenbemerkung: «Ich muss einräumen, dass ich anfangs behauptet habe, die Ränder der Flossen bestünden aus abgerundeten Knochen. Dies trifft nicht zu. Doch als 1821 das erste Exemplar gefunden wurde, hatten sich die betreffenden Knochen aus dem Skelett gelöst und wurden nach Mutmaßungen des damaligen Besitzers in diese Position geklebt.»
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass er damit Mary meinte und andeutete, sie habe beim ersten Plesiosaurier Fehler in der Zusammensetzung der Knochen gemacht. Reverend Conybeare erwähnte sie also nur dann – und auch das, ohne sie namentlich zu nennen –, wenn es etwas zu kritisieren gab. «Wie taktlos für einen Gentleman!», murmelte ich lauter als beabsichtigt, denn in der Männerreihe vor mir drehten sich ein paar Köpfe in meine Richtung, als wollten sie die Quelle dieses wütenden Kommentars ausmachen.
Ich machte mich auf meinem Stuhl klein und hörte benommen zu, wie Reverend Conybeare den Plesiosaurier mit einer Schildkröte ohne Panzer verglich und die Vermutung aussprach, dass sich das Tier weder im Wasser noch an Land besonders elegant bewegen konnte. «Lässt das nicht den Schluss zu, dass dieses Tier an oder knapp unter der Wasseroberfläche schwamm, den Hals zurückgebogen wie ein Schwan, und nach Fischen schnappte, die sich in seine Reichweite wagten? Vielleicht lauerte es auch, verborgen zwischen Seetang und Algen und die Nasenlöcher aus beträchtlicher Tiefe knapp über die Wasseroberfläche haltend, im seichten Wasser des Küstenbereichs, wo es vor den Angriffen natürlicher Feinde sicher war.»
Reverend Conybeare beendete seinen Vortrag mit einem strategischen Tusch, den er sich zu Beginn der Versammlung ausgedacht haben musste. «Ich kann der wissenschaftlichen Öffentlichkeit nur dazu gratulieren, dass uns die Entdeckung dieses Tieres genau in dem Moment gelungen ist, in dem der erlauchte Cuvier seine Forschungen zu den fossilen Ovipara so gut wie abgeschlossen hat und zu veröffentlichen gedenkt. Er wird auch dieses Thema so erleuchtend und klar darstellen, wie es ihm selbst in den entlegensten und kompliziertesten Bereichen der vergleichenden Anatomie gelungen ist. Ich danke Ihnen.»
Mit
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