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Zwei bemerkenswerte Frauen

Zwei bemerkenswerte Frauen

Titel: Zwei bemerkenswerte Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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formte, müsste es den ganzen Tag lang gewittern. Aber Fanny konnte so einfach nicht denken und hielt deshalb an ihren Ängsten fest. Ich kannte viele Menschen, die genauso dachten. Sie hatten Angst vor dem, was sie nicht verstanden.
    Trotzdem mochte ich Fanny, außerdem war sie damals meine einzige richtige Freundin. Unsere Familie war in Lyme nicht besonders beliebt, denn die Leute fanden Pas Interesse für Fossilien eigenartig. Selbst Mam ging es so, obwohl sie Pa immer verteidigte, wenn sie hörte, dass auf dem Markt oder vor der Kirche über ihn geredet wurde.
    Doch Fanny blieb nicht meine Freundin, so viel Edelsteine ich ihr auch vom Strand mitbrachte, denn die Millers misstrauten nicht nur den Fossilien, sie trauten auch mir nicht über den Weg. Noch schlimmer wurde es, als ich den Philpots zu helfen begann, über die sich die Leute in der Stadt lustig machten. Es hieß, die Damen aus London seien so verschroben, dass sie noch nicht einmal in Lyme einen Mann fanden. Wenn ich mit Miss Elizabeth an den Strand ging, kam Fanny nie mit. Mit der Zeit hatte sie immer mehr zu meckern: Entweder machte sie dumme Kommentare über Miss Elizabeths hageres Gesicht und Miss Margarets alberne Turbane, oder sie wies mich auf die Löcher in meinen Stiefeln und den Dreck unter meinen Fingernägeln hin. Allmählich fragte ich mich, ob sie wirklich eine Freundin war.
    Dann kam der Tag, an dem wir gemeinsam über den Strand gingen und Fanny wieder einmal so mürrisch war, dass ich sie bestrafen wollte. Bewusst ließ ich uns von der Flut den Rückweg abschneiden. Als sie den letzten Sandstreifen vor der Klippe unter einer schäumenden Welle verschwinden sah, begann Fanny zu weinen. «Was machen wir nur?», schrie sie und hörte gar nicht mehr auf zu schluchzen.
    Ich verspürte keinerlei Drang, sie zu trösten, und sah sie einfach nur teilnahmslos an. «Wir haben zwei Möglichkeiten: Entweder wir waten durchs Wasser, oder wir steigen den Klippenpfad hoch», sagte ich. «Du hast die Wahl.» Ich selbst hatte wenig Lust, eine Viertelmeile weit immer an den Klippen entlang durchs Wasser zu waten, bis wir zu dem Punkt kamen, wo die Stadt begann und das Gelände anstieg. Das Wasser war eiskalt und der Seegang rau, außerdem konnte ich nicht schwimmen, aber das sagte ich Fanny nicht.
    Fannys Blick wanderte ängstlich vom aufgewühlten Meer zur steilen Klippe und wieder zurück. «Ich kann mich nicht entscheiden», kreischte sie, «ich kann’s einfach nicht.»
    Erst ließ ich sie noch eine Weile heulen, dann führte ich sie zu dem steilen holprigen Pfad, auf dem ich sie zog und hochhievte, bis wir weiter oben zu dem Küstenweg zwischen Charmouth und Lyme kamen. Nachdem sie sich beruhigt hatte, würdigte Fanny mich keines Blickes mehr, und sobald die Stadt in Sicht kam, rannte sie davon. Ich versuchte nicht, sie einzuholen. Noch nie zuvor war ich einem anderen Menschen gegenüber so grausam gewesen, jetzt hasste ich mich selbst dafür. An diesem Tag spürte ich zum ersten Mal, dass ich nicht richtig zu den Menschen in Lyme gehörte, ein Gefühl, das ich in Zukunft noch oft haben sollte. Wenn wir uns in der Kirche, auf der Broad Street oder am Fluss begegneten, waren Fanny Millers große blaue Augen fortan kalt wie das Eis auf einer Pfütze, und mit ihren Freundinnen tuschelte sie hinter vorgehaltener Hand über mich. Ich fühlte mich noch mehr als Außenseiterin.
    Als ich elf Jahre alt war, wurde unser Leben richtig schwer, denn wir verloren Pa. Manche sagen, er sei selbst schuld gewesen, denn eines Nachts ist er auf dem Heimweg nach Lyme auf dem Klippenpfad schlimm abgestürzt. Er hat geschworen, dass er nichts getrunken hatte, aber natürlich konnten wir es alle riechen. Den Sturz überlebte er, was schon ein unglaubliches Glück war, doch nachher ist er monatelang bettlägerig gewesen und hat nicht in der Tischlerei arbeiten können. Die Kuris, die Joe und ich fanden, brachten nur wenig Geld ein, so dass unsere Schulden uns allmählich über den Kopf zu wachsen begannen. Mam sagte, er wär von dem Sturz noch so geschwächt gewesen, dass er gegen die Krankheit, die er wenige Monate später bekam, nicht mehr ankämpfen konnte.
    Pas Tod machte mich traurig, doch ich hatte keine Zeit, länger über diesen Verlust nachzudenken, denn er hatte uns einen Berg Schulden hinterlassen. Wir hatten keinen Schilling mehr in der Tasche: Joe, ich, Mam und das Baby, das sie einen Monat nach Pas Beerdigung zur Welt brachte. Zur Beerdigung mussten Joe und

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