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Zwei bemerkenswerte Frauen

Zwei bemerkenswerte Frauen

Titel: Zwei bemerkenswerte Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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nett», murmelte ich. Eigentlich wollte ich sie fragen, was wir mit Schals und Stärkungsmitteln anfangen sollten, wo es uns am Nötigsten fehlte, an Kohle, Brot oder Geld, aber die Philpots waren immer gut zu mir gewesen, darum beklagte ich mich nicht.
    Eine Windbö blies unter den Rand von Miss Elizabeths Haube, so dass er sich umstülpte. Sie drückte ihn zurück, zog ihren Schal fester zusammen und runzelte die Stirn. «Wo ist dein Mantel, Mädchen? Es ist zu kalt, um ohne unterwegs zu sein.»
    Ich zuckte die Schultern. «Mir ist nicht kalt.» In Wahrheit fror ich jämmerlich, aber ich hatte es erst jetzt gemerkt, wo sie mich fragte. Meinen Mantel hatte ich vergessen, doch der war mir ohnehin zu kurz und eng und hinderte mich, meine Arme frei zu bewegen. An jenem Tag waren mir Mäntel egal.
    Ich wartete, bis Miss Elizabeth um die Strandbiegung verschwunden war, dann machte ich mich selbst auf den Heimweg. Den Ammo hielt ich immer noch fest in der Hand. Miss Elizabeths gerader Rücken, dessen Umriss ich weit vor mir sah, leistete mir Gesellschaft und wirkte irgendwie tröstlich. Erst als ich Lyme erreichte, begegneten mir andere Menschen. Es waren ein paar Londoner, die zum Saisonende in der Stadt weilten und hinter unserem Haus über das Gun Cliff spazierten. Als ich an ihnen vorbeilaufen wollte, rief eine Dame: «Hast du etwas gefunden?»
    Ohne nachzudenken öffnete ich die Finger. Sie schnappte nach Luft und nahm mir den Ammo aus der Hand, um ihn den anderen zu zeigen. Alle blieben stehen, um ihn zu bewundern. «Ich gebe dir eine halbe Krone dafür, mein Mädchen.» Die Dame reichte den Ammo an einen der Herren weiter und öffnete ihre Geldbörse. Ich wollte sagen, dass er nicht zu verkaufen war, weil er mir helfen sollte, mich an Pa zu erinnern, aber sie hatte mir die Münze schon in die Hand gelegt und sich weggedreht. «Damit können wir eine Woche lang Brot kaufen», dachte ich und starrte die Münze an. «Das Geld wird uns vor dem Armenhaus retten.» Pa hätte es so gewollt.
    Die Münze fest umklammert, rannte ich nach Hause. Sie war der Beweis, dass wir weiterhin von den Kuris leben konnten.
    Mam beklagte sich nicht mehr, wenn wir suchen gingen. Sie hatte auch gar keine Zeit dazu: Kaum hatte sie sich halbwegs vom Schock über Pas Tod erholt, kam das Baby zur Welt. Sie nannte es Richard, nach Pa, und wie schon die letzten Babys war auch er ein Schreibaby. Ständig kränkelte er, und Mam ebenfalls. Sie fror und war müde, weil das Baby schlecht schlief und nie genug trank.
    Eines Tages wenige Monate nach dem Tod unseres Vaters trieb das Geschrei des Babys Joe hinaus in die bittere Kälte, die er so hasste. Auch unsere Schulden drückten ihn, wir brauchten dringend Fossilien. Trotz der Kälte hätte ich ihn gern begleitet, doch ich war ans Haus gefesselt, weil ich das Baby auf und ab tragen musste, damit es zu schreien aufhörte. Richard war ein jämmerliches kleines Ding, es war schwer, ihn gern zu haben. Das Einzige, was ihn zum Schweigen brachte, war, wenn ich ihn ganz fest an mich drückte, ihn wiegte und dazu das Lied sang: «Lass mich nicht als Jungfer sterben.»
    Ich sang gerade zum sechsten Mal die letzten Zeilen – «Ob du alt bist oder jung, ob dumm oder gescheit / Lass mich nicht als Jungfer sterben, nimm mich aus Mitleid» –, als Joe heimkam und so laut gegen die Tür schlug, dass ich erschreckt zusammenfuhr. Er brachte einen Schwall kalter Luft mit herein, und das Baby begann wieder zu schreien. «Sieh, was du angerichtet hast!», schrie ich. «Gerade hatte er sich beruhigt, und dann kommst du und weckst ihn wieder auf.»
    Joe machte die Tür hinter sich zu und drehte sich zu mir um. Da sah ich, dass er ganz aufgeregt war. Normalerweise kann meinen Bruder nichts aus der Ruhe bringen – sein Gesicht ist wie aus Stein gemeißelt, und er verzieht kaum jemals eine Miene. Doch jetzt leuchteten seine braunen Augen, als würde die Sonne durch sie scheinen, seine Backen waren rot und sein Mund stand offen. Er riss sich die Mütze vom Kopf und strubbelte sich durch die Haare, bis sie nach allen Seiten abstanden.
    «Was ist los, Joe?», fragte ich. «Ach, still, Baby, psst!» Ich hielt mir das Baby über die Schulter. «Was ist?»
    «Ich hab was gefunden.»
    «Was? Zeig’s mir.» Ich wollte sehen, was er dabeihatte.
    «Du musst mit rauskommen. Es ist in der Klippe, und es ist riesig.»
    «Wo?»
    «Am Ende der Church Cliffs.»
    «Und was ist es?»
    «Weiß nicht. Etwas … etwas anderes. Ein langer

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