Zwei kunterbunte Freundinnen | Das Chaos wohnt nebenan
hörte auf zu weinen. Sie verstand nur immer noch nicht, wieso Mamas Seilbahnfahrt mittendrin so abrupt abgebremst worden war. Als sie sich aus dem Fenster lehnte, um besser sehen zu können, entdeckte sie Papa, der aufgeregt hin und her rannte und versuchte, die lange Leiter über den Zaun zwischen den Grundstücken zu hieven.
»Was willst du denn mit der Leiter?«, rief Märzbritt. »Es ist doch nichts da, wo man sie dranstellen kann.«
Da hat Märzbritt vollkommen recht, dachte Maibritt. Und jetzt sah sie auch, was passiert war.
Das eine Seil war gerissen, durch das Fenster geschossen und hatte sich wie ein Knäuel um das andere Seil gewunden und verknotet. Der rote Karabinerhaken passte aber nicht über den Knoten. Die Weiterfahrt zur Eiche war damit blockiert, und Mama hatte eine Vollbremsung gemacht. So, wie es aussah, war der einzige Ausweg, sich rückwärts zurück zum Fenster zu hangeln. Aber wie sollte man Mama das in ihrer Panik klarmachen?
»Sie kann nicht weiter, weil die Seile sich verknotet haben!«, rief Maibritt.
Anna und Märzbritt schauten zu ihr hoch.
Papa rannte noch immer mit der unbrauchbaren Leiter durch den Garten und fluchte vor sich hin. Wenn das so weiterging, würde die Fluchkasse bald für eine Reise in den Süden reichen.
»Pass auf, dass du nicht auch noch aus dem Fenster fällst!«, rief Anna zu Maibritt hoch.
»Nein, nein«, sagte Maibritt und zog sich vom Fenster zurück.
Neben dem Bett lag die große Tasche mit Papas Kletterseilen. Maibritt zog das längste Seil heraus, ein himmelblaues, und knotete ein Ende um Mollys Bauch. Molly war Maibritts schönste Puppe.
»Mama!«, rief Maibritt. »Sieh mich an!«
Es war Mama gelungen, den Rock aus dem Gesicht zu schieben. Jetzt lag er wie eine Stoffwurst um ihre Taille, ein bisschen wie Junis alter Schwimmring. Jedenfalls genauso schlaff und störrisch.
»Ich werfe dir jetzt Molly zu«, sagte Maibritt und merkte, wie ihr Hals sich zuschnürte.
Mama starrte sie mit wildem Blick an, man konnte von Weitem sehen, was für eine Riesenangst sie hatte. Noch mehr Angst als bei Junis Lungenentzündung, als die eine Woche im Krankenhaus liegen musste. Es hatte damals zu keiner Zeit Lebensgefahr für Juni bestanden, aber jetzt sah Mama aus, als blickte sie dem leibhaftigen Tod ins Auge.
»Was soll deine Mama mit der Puppe?«, rief Märzbritt. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr nach Spielen ist!«
»Mama«, sagte Maibritt gerade so laut, dass nur Mama sie hören konnte, »ich schmeiße jetzt Molly zu dir rüber, und du fängst sie auf. Halt sie gut fest, dann zieh ich dich zu mir rauf.«
Mama ließ Maibritt nicht aus den Augen und nickte heftig.
Zuerst versuchte Maibritt es mit Pendeln der Puppe, konnte aber wegen der Hauswand nicht genug Schwung von hinten holen. Also zog sie die Puppe wieder auf das Fensterbrett, nahm sie fest in die rechte Hand und warf ihre Lieblingspuppe in hohem Bogen zu Mama.
Eins der vielen Dinge, mit denen Robert Svendsen sie aufzog, war ihr mangelndes Ballgefühl. Sie kriegte nicht mal einen einfachen Mädchenwurf hin. Deswegen machte sie einen Bogen um alles, was mit Bällen oder Werfen zu tun hatte. Ein einziges Mal, als sie geglaubt hatte, sie wäre allein, hatte sie einen Schneeball geformt. Der Schnee war wunderbar pappig gewesen, und der Schneeball wurde schön groß und rund und fest. Sie hatte sich in alle Richtungen umgeschaut, ehe sie versucht hatte, einen nur drei Meter entfernten Laternenpfahl zu treffen. Sie hatte es nicht mal bis zu dem Pfahl geschafft. Robert hatte sich totgelacht, als er hinter der Schneeburg hervorschaute, die die Kinder am Straßenrand gebaut hatten. Am nächsten Tag wusste die ganze Schule, was für eine miserable Werferin Maibritt war.
Maibritt warf Molly in einem perfekten Bogen. Fast sieben Meter, wie Papa später nachmaß. Und Mama fing Molly. Sie knotete sich das Seilende um ihre Taille und drückte die Puppe ganz fest an sich.
»Lass Molly nicht fallen!«, rief Maibritt und begann zu ziehen.
Aber Mama war zu schwer. Nach ein paar Zentimetern war Maibritt am Ende ihrer Kräfte.
»Ich helfe dir«, sagte Anna, die überraschend in der Tür zu Maibritts Zimmer stand.
Anna und Maibritt zogen nun mit vereinten Kräften an dem hellblauen Seil. Sie zogen und zogen, als würden sie einen Riesenfisch an Bord holen. Mama war ein riesiger Schwertfisch. Mindestens.
Von draußen war Jubel zu hören. Die Nachbarn feuerten Anna und Maibritt an, und Märzbritt lachte
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