Zwei Sommer
Riesenangst vor den Schatten an meinen Wänden, erst recht, wenn sie begannen sich zu bewegen, sobald das Scheinwerferlicht eines Autos an unserem Haus vorüberzog. Die Tür zu meinem Zimmer blieb immer einen Spaltbreit offen (bis Lenny in das Zimmer neben mir einzog und ich auch bei geschlossener Zimmertür wusste, dass jemand da war). Das Licht aus dem Flur beruhigte mich und vertrieb die Schatten und wenn ich von unten den Fernseher hörte oder die Stimmen meiner Eltern (oder Lennys Gebrüll), fühlte ich mich sicher. Wenn es mir trotzdem zu still wurde, tappte ich im Nachthemd nach unten, legte mich in den Schoß meiner Mutter, und sobald ich fest schlief, trug mich mein Vater zurück ins Bett.
Aber am schönsten war Einschlafen neben Oliver. Wenn er mich in den Arm nahm, legte ich meinen Kopf immer an dieselbe Stelle – zwischen Schulter und Hals.
Das war mein Lieblingsplatz.
Wenn er etwas sagte, hatte ich seine schöne Stimme ganz nah an meinem Ohr und wenn ich meine Hand auf seine Brust legte, konnte ich spüren, wie die Worte in seinem Körper vibrierten. So viele schöne Worte und jedes saugte ich auf und jedes ist noch immer in mir. Jede einzelne Silb e …
»Ihr wollt also um die Hand meiner Tochter anhalten, hochverehrter Prinz Oliver?«
»Kein anderes Verlangen hat mich zu Euch geführt, Majestät. Mir kam zu Ohren, Eure Tochter sei die Schönste im ganzen Land.«
»Nun, wenn Ihr zu entscheiden vermögt, welche von beiden die Schönste ist – ich überließe Euch den Thron dafür.«
»Zwei Töchter? Majestät, treibt keinen Spott mit mir!«
»Ihr zweifelt an meinen Worten?«
»Mitnichten, mitnichten! Doch ist in meinem Herzen nur Platz für eine Sonne.«
»Das ehrt Euch, Prinz. So trefft Eure Wahl umso geschickter. Wählt Ihr die Schönste, gehört Euch der Thron. Wählt Ihr jedoch die Zweitschönste, so hängt Ihr noch vor Tagesanbruch am Galgen.«
Der König wies seinen Diener an, die Prinzessinnen nacheinander hereinzuführen.
Da sauste auch schon ein Mädchen auf einem Fahrrad in den Saal. Es war grün und mit pinkfarbenen Totenköpfen verziert. Auf dem Gepäckträger saß eine Plüschgiraffe, die eine mit Juwelen besetzte Krone auf dem Kopf trug.
Aus grünen Augen funkelte die Prinzessin den König an und warf einen mürrischen Blick auf den Fremden.
»Was will der Typ denn hier, Papa? Ich hab keinen Bock auf dieses dämliche Schaulaufen, wie oft soll ich das denn noch sagen?«
»Mein Kind, bist du von Sinnen? Geziemt es sich, einen Gast unseres Hauses mit deinen Launen zu verstimmen?«
»Kannst du mal für fünf Minuten die Diplomatenschiene runterfahren und mir zuhören? Ich bin kein Baby mehr, falls du’s noch nicht bemerkt hast. Aber du kriegst ja sowieso nichts mit! Du bist ja nie da! Also – was will der Typ hier?«
»Er will um deine Hand anhalten, Marie.«
Da ging der Prinz auch schon auf die Prinzessin zu und fiel vor ihr und ihrem bunten Gefährt auf die Knie. Dabei läutete ein goldenes Glöckchen an seinen Lederstiefeln, dessen Klang die Prinzessin wundersam verzauberte.
»Willst du mein Hafen sein?«, fragte der Prinz und blickte seiner Auserwählten in die grünen Augen. Als er jedoch ihre Hand ergreifen wollte, verbarg die Prinzessin sie eilig hinter dem Rücken.
In diesem Augenblick kam ein zweites Mädchen durch die hohen weißen Flügeltüren in den Saal gestürzt, verfolgt von dem Diener, der vergeblich bemüht war, sie zurückzuhalten.
»Ja, ich will!«, rief da die Zweite auch schon, ergriff die ausgestreckte Hand des Prinzen und zog ihn zu sich heran.
»Tanzt mit mir!«, rief sie und schlang verführerisch ihre Arme und Beine um den Prinzen, der nicht wusste, wie ihm geschah. Eine Streichkapelle stürmte den Saal, ein Dirigent in einem rot-grün karierten Frack riss seine Arme in die Höhe und auf sein Zeichen intonierte das Orchester My Hero von den Foo Fighters .
»Das ist mein Lied!«, rief Prinzessin Marie, stieg wieder auf ihr Rad und begann, das tanzende Paar zu umrunden.
»Diese Jugend von heute«, murmelte der Diener, während er am Türrahmen lehnte und dem Spektakel fassungslos zusah.
»Es tut mir leid, Schwesterherz. Es ist einfach so passiert«, säuselte Prinzessin Isabella über Prinz Olivers Schulter hinweg und warf ihrer Schwester eine Kusshand zu.
»Mann, du bist echt das Allerletzte! Ich hasse dich!«, schrie Prinzessin Marie, doch ihre Schreie wurden vom Crescendo der Streicher übertönt. »Schönes Leben noch, du Arschloch von
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