Zwei Sommer
und kann es schon riechen und kann es schon hören und dann kann ich es endlich sehen: das Meer.
In diesem Augenblick ist es, als würde sich alles um mich herum schlagartig auflösen, sich auf seltsame Weise verkleinern. Ich komme mir plötzlich selbst ganz winzig vor mit meinen Turnschuhen in der Hand und der Kapuze auf dem Kopf. Wie ein kleiner trauriger Zwerg in einem riesigen schwarzen Pullover, der bis ans Ende seiner Welt gereist ist, damit etwas, was groß und stark ist, ihm sein Leben erklärt.
Der Horizont zieht mich magisch an. Das Rauschen der Wellen ruft nach mir. Ich betrete einen menschenleeren Strand wie einen fremden Planeten. Nur ein paar leere Weinflaschen und eine verwaiste, erloschene Feuerstelle erinnern mich daran, dass schon Menschen vor mir hier gewesen sein müssen. Ich gehe ans Wasser, bleibe stehen und warte, bis die nächste Welle nach meinen Füßen schnappt. Das Wasser ist schon warm, obwohl es noch so früh am Morgen ist.
Ich habe das Meer und den Sonnenaufgang ganz für mich alleine. Ich starre auf das dunkle Wasser hinaus, fühle mich gut und sehr einsam zugleich. Gemessen an der gefühlten Dramatik dieses Augenblicks könnte ich genauso gut ein Seemann sein, der sein sinkendes Schiff gegen die Macht der Naturgewalten mit einem letzten trotzigen Blick verteidigt.
Ich brauche nicht lange warten auf den großen Moment der Klarheit, den Tante Doro mir gestern versprochen hat. Ich stehe mit nackten Füßen und nassen Hosenbeinen im Wasser, spüre die Wellen in ihrem gleichförmigen, gleichgültigen Rhythmus meine Zehen entlangstreicheln, habe das Rot der Morgensonne in meinem Gesicht und weiß es: dass ich Oliver verloren habe. Und dass ich durch bloße Willenskraft nichts daran ändern kann, auch wenn ich jetzt glaube, dass ich noch nie etwas so sehr gewollt habe wie Oliver. Und dass ich nie wieder etwas so sehr wollen werde wie ihn.
Und plötzlich habe ich auch noch dieses Lied im Ohr. Vielmehr diese eine Zeile aus diesem Lied, das mir in den Ohren summt. Es ist fast so, als hätte mein Herz die ganze Zeit nur auf den passenden Soundtrack gelauert: »Wenn deine Küsse ihn nicht halten können – deine Tränen bringen ihn nicht zurück.«
Ich weiß es plötzlich einfach. Ich weiß, dass jedes von Olivers Worten wahr ist. Dass es seine Wahrheit ist, die nun zwangsläufig auch zu meiner werden muss. »Das war’s« ist, was in diesem Augenblick noch übrig bleibt von sieben Tagen Herzschmerz und von vier Monaten unendlichen Glücks. Es ist das Einzige, was ich jetzt noch wissen muss.
Ich könnte mir nun wie diese eine Schriftstellerin, deren Name mir gerade nicht einfällt, meinen Kapuzenpulli und meine Hosentaschen voller Steine packen und ins Meer hinauswandern, aber so verrückt bin ich auch wieder nicht und so lebensmüde erst recht nicht. Ich habe nämlich noch jede Menge zu erledigen auf diesem Planeten. Ich muss noch ein Buch schreiben, ich muss Lenny noch Schwimmen beibringen, ich muss noch Klavierspielen lernen und ich muss mich unbedingt noch mal verlieben, auch wenn ich nicht weiß, ob ich das je wieder hinkriege. Und außerdem gibt es noch so ein bis zwei Personen, denen ich das Leben gern zur Hölle machen will.
4
»Tante Doro?« Tante Doro steht in ihrem Atelier, der ganze Boden ist mit Papier bedeckt, ihr Kittel ist über und über mit Farbe beschmiert und unterscheidet sich damit nicht wesentlich von dem Untergrund, auf dem sie mit nackten Füßen steht.
»Es ist ein Selbstporträt«, sagt Tante Doro leise, ohne den Blick vom Boden abzuwenden. Sie scheint in dem bunten Wirrwarr nach etwas zu suchen.
Ich trete ein kleines Stück näher und sehe, dass sogar Tante Doros Haare ein paar Farbspritzer abbekommen haben. Unsicher umrunde ich die bunte Papierfläche vergebens auf der Suche nach etwas, was mich an Tante Doro erinnert. Ein seltsamer Geruch steigt mir in die Nase.
»Tante Doro, liegt hier irgendwo ’ne tote Maus rum oder so?«
»Was?«
»Hier stinkt’s!«
»Das kann nicht sein. Seit Ole da ist, hab ich keine Probleme mit Mäusen mehr.« Ole ist ihr roter Kater. Ich finde es toll, dass er beschlossen hat, bei ihr einzuziehen. Tante Doro mag nämlich eigentlich keine Haustiere. Sie findet das unnatürlich, Tiere im Haus zu haben. Ole war da irgendwie anderer Meinung. Jedenfalls ist er letzten Winter zum ersten Mal bei ihr aufgekreuzt (vielleicht wegen des Kachelofens) und bei ihr geblieben (vielleicht wegen Tante Doro). Ich glaube manchmal, seit Ole da
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