Zwei Wochen danach (German Edition)
an Ralph. Ich konnte nicht anders. Als ich das Gefühl hatte, die Zeiger der Uhr würden sich überhaupt nicht mehr fortbewegen, musste ich raus dort.
Der Arzt hat gesagt, dass die Chancen jetzt sechzig zu vierzig stehen. Wenn Ralph stirbt, bin ich auch eine Witwe.
Viel zu jung für eine Witwe, denke ich. Viel zu jung, um zu sterben!
Ich spüre die Blicke der Passanten und als ich mich nach ihnen umdrehe, sehen sie weg. Also laufe ich in abgelegenere Seitenstraßen, wo ich mit meinen Gedanken allein sein kann.
Plötzlich merke ich, dass die Leute mit ihren vorwurfsvollen Blicken Recht haben. Ich müsste jetzt eigentlich bei meinen Kindern sein. Und bei meinem Mann. Ich bekomme Angst. Angst, dass etwas passiert sein könnte.
Ich laufe bis zur nächsten Kreuzung und lese mir die Straßennamen durch. Ich kenne sie, aber ich weiß nicht genau, in welche Richtung ich gehen muss. Weit und breit keine Menschen und keine U-Bahn in Sicht.
Gehetzt laufe ich weiter, bis größere Straßen kommen.
Endlich erkenne ich einen Platz wieder und eile den Weg zur Klinik zurück. Er kommt mir so lang vor wie noch nie.
Das letzte Stück jogge ich. Jogge die Treppen hinauf zur Intensivstation und klingele zweimal. Ich beachte den jungen Mann, der mir öffnet, kaum. Renne wieder, an den Türen vorbei, den Gang entlang, bis zu Ralphs Zimmer. Ich stehe davor.
Einige Sekunden lang stehe ich davor und bange.
Dann schiebe ich die Tür auf.
***
(Heike)
Es ist halb vier, als Heike den Wagen vorfahren hört. Sie vernimmt die Stimmen ihres Vaters und ihrer Kinder und hätte sich am liebsten noch weiter unter die Bettdecke verkrochen.
Heike hofft, dass sie schnell wieder gehen würden. Sie bleibt im Bett. Mutter hat einen Schlüssel, denkt sie.
„Heike?“, sie hört ihren Namen von der Ferne, doch sie antwortet nicht.
Kurze Zeit später kommt jemand die Treppe hinauf.
„Mein Gott, Kind, liegst du immer noch? Hast du wenigstens was gegessen?“ Heikes Mutter schaut auf das leere Glas, das neben ihr steht.
Heike schüttelt den Kopf.
Ihre Mutter bahnt sich einen Weg durch unzählige Taschentücher, die am Boden liegen.
Es tut gut, gehalten zu werden.
Sie hört die Kinder näher kommen und spürt, dass sie das erregt. Sie weiß nicht, wie sie ihnen begegnen soll.
Pit und Marcus stehen einen Moment lang da und sehen sie an. Dann stürzen sie gleichzeitig auf Heike zu und springen auf ihr Bett.
Sie kann nicht reagieren. Kein Wort bringt sie heraus.
Heikes Vater ist den Kindern gefolgt. Er steht in der Tür und scheut sich einzutreten.
Marcus hat den Arm um Heikes Hals geschlungen. „Mami, Mami!“
Heike hat nicht einmal die Kraft, seine Umarmung zu erwidern. Sie sieht, wie ihre Mutter den Raum verlässt. Auch Pit krabbelt rückwärts vom Bett und läuft hinaus, gefolgt von Marcus.
Ihr Vater nimmt beide mit nach unten.
Heike liegt da und starrt aus dem Fenster. Sie hat sich zur Seite gerollt und die Beine angezogen.
Gleich wird ihre Mutter wieder im Zimmer stehen und sie nach den Geschenken für die Kinder fragen.
Wieder hört sie die Treppe poltern. Heike weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Die Zeit ist Heike kein Begriff mehr. Sie ist außer Kontrolle geraten.
Ihre Mutter kommt mit einem Tablett in der Hand ins Zimmer. Sie stellt es auf der Kommode ab, räumt die Taschentücher zusammen und geht kurz hinaus.
Heike greift nach einer Tasse mit warmem Tee. Das ist das einzige, was sie zu sich nehmen kann. Das Brot würde sie nicht hinunterbekommen.
Ihre Mutter sitzt auf der Bettkante und streicht ihr die Haare aus der Stirn. „Wir müssen Sebastians Vater Bescheid geben“, sagt sie vorsichtig. „Das hätten wir schon gestern tun sollen!“
Als sie aufstehen will, hält Heike sie am Arm zurück. „Die Sachen sind im Keller, im braunen Schrank.“
Ohne Worte nimmt ihre Mutter das leere Tablett. An der Tür verharrt sie einen Moment und blickt noch einmal zu Heike zurück. „Ich nehm dein Telefonbuch mit nach Hause. Morgen komm ich nochmal allein vorbei. Ohne die Kinder.“
„Danke“, sagt Heike, stellt die Tasse zurück auf den Schrank neben den Teller und dreht sich wieder zum Fenster.
***
(Nicole)
Es ist eine stille Umarmung, die uns verbindet.
Ralph ist über den Berg. Jetzt dürfen wir wieder Hoffnung haben.
Susanne strahlt, als sie sich aus der Umklammerung ihres Großvaters löst und auf mich und Raphael zugeht.
Dass noch nicht klar ist, wie Ralph sein wird, wenn sie ihn irgendwann aus
Weitere Kostenlose Bücher