Zweilicht
er auch nur die Bremse greifen konnte, raste er bereits aus der Kurve. Nur ein Traum , dachte er. In dem Moment, in dem das Vorderrad ins Leere griff und der Himmel vor ihm nach oben rutschte, zwang er sich dazu, aufzuwachen.
Der Motorlärm war fort, und auch der Schnee. Er hörte nur das Rauschen seines Blutes, den schnellen Schlag seines Herzens – und irgendwo weit entfernt … Flüstern? » Ich wusste nie, wie das ist, sich zu sehnen, Cinna. Es tut weh. Und trotzdem sehne ich mich so sehr.« Die Stimme war körperlos, als wäre sie nur ein Echo fremder Gedanken.
Jay schlug die Augen auf. Über ihm schwang der Dreamcatcher sacht hin und her, als hätte ihn jemand berührt. Ein Mondstrahl traf darauf und wurde in Netzschatten zerschnitten, die nun an der Wand hin und her glitten. Plötzlich war die Stille so dicht, dass sie zu dröhnen schien. Sogar Feathers hielt ganz still, als würde er lauschen. Jays Hand krampfte sich schmerzhaft fest um das Handy.
»Dad?«, flüsterte er. Aber das Zimmer war leer, das konnte er sogar in der Dunkelheit erkennen. Das Fenster war ein helleres Rechteck und der Mond, der in ein paar Tagen voll sein würde, ein klarer weißer Fleck in seinem Augenwinkel.
Jay schluckte krampfhaft und wandte den Blick ab.
Ich sehne mich so sehr.
Aber erst als seine Augen zu brennen begannen, gestand er sich ein, dass es ihn aus dem Hinterhalt erwischt hatte: die völlig abstruse und blödsinnige Hoffnung, er hätte den Unfall nur geträumt und seinen Vater nicht um wenige Monate verpasst.
Er schloss die Augen, beugte sich aus dem Bett und vergrub die Nase in Feathers’ Nackenfell. »Idiot«, flüsterte er. »Er kommt nicht zurück und er wird mir auch kein verdammtes Zeichen geben. Er ist tot.«
»Wie oft warst du schon hier?«
»Jede Nacht.«
»Jede Nacht? Du bist wahnsinnig!«
»Ich kann nicht anders!«
Jay fuhr mit klopfendem Herzen hoch und lauschte angestrengt. Nur der Wind rauschte durch die Blätter – und irgendwo in der Ferne heulte die Sirene eines Krankenwagens auf. Die Melodie der Stadt holte ihn endgültig in die Gegenwart zurück. Jetzt bemerkte er auch, dass das Fenster halb offen stand und der Wind den Dreamcatcher zum Schwingen gebracht hatte. Vielleicht hatte er Wortfetzen eines Gesprächs gehört, das zwei Mädchen oder Frauen draußen geführt hatten?
Feathers bellte und kam auf die Beine, aber er lief nicht zum Fenster, sondern zur Tür.
Onkel Matt kam die Treppe hoch. Er war nicht zu überhören, schließlich stampfte und ächzte er beim Gehen wie ein in die Jahre gekommener Cyborg. Es war Jay ein Rätsel, wie dieser Koloss die zerbrechlich wirkenden, schmalen Stufen bewältigte.
Als die Tür aufschwang, füllte Onkel Matts Umriss den Türrahmen an den Seiten komplett aus. »Oh, wollte dich nicht wecken.«
»Hast du nicht«, sagte Jay mit belegter Stimme. »Wie spät ist es?«
»Zehn.«
Wow, mal wieder gründlich ins Koma gefallen.
Ein Lichtschalter knipste, dann flutete Helligkeit Jays Gehirn.
Sein Onkel trug ein Sweatshirt von der Größe eines Zeltes, das über seiner Brust spannte, weite Jeans und seinen Werkzeuggürtel, in dem ein verdreckter Lumpen klemmte. Schmieröl klebte unter seinen Fingernägeln und zeichnete jede Falte und jede Linie auf seinen kräftigen Händen ab. Als er sich durch die Haare strich, bildete die geschwärzte Hand einen scharfen Kontrast zu seinen kupferroten Strähnen. Es war seltsam, wie sehr diese Geste Jay an sich selbst erinnerte.
»Aidan haut uns noch was in die Pfanne. Wollte dir nur Bescheid sagen.«
»Ich hab keinen Hunger.«
»Okay. Ach ja – und Charlie hat schon wieder angerufen. Ich habe ihr gesagt, du bist nicht da.«
»Danke.«
»Rufst du sie zurück?«
Jay zuckte mit den Schultern. Das Schöne an Onkel Matt war, dass ihm die Geste als Antwort vollauf genügte. »Aha«, meinte er nur. Und damit war die Sache auch schon erledigt. Es war, als würden Onkel Matt und er dieselbe Sprache sprechen. Und für die brauchte man keine Worte. Charlie hätte Jay so lange gefoltert, bis sie ihn in die Ecke getrieben hätte und er ausgerastet wäre und sie angeschnauzt hätte. Und dann hätte sie ihn beschimpft, er sei genauso aggressiv, dumm und vernagelt wie sein Vater. Seltsamerweise traf ihn dieser Vorwurf heute überhaupt nicht. Ich bin tatsächlich wie er. Und wie Onkel Matt. Es fühlte sich an, wie hierher zu gehören. Hier war er einfach nur richtig, wie er war.
»Ich brauche am Wochenende deine Hilfe«,
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