Zweilicht
Windhund einem bulligen Bernhardiner.
Charlie hatte einmal boshaft gemeint, dass Matt ein gutmütiger Trottel war und sich den Sohn eines anderen Mannes hatte anhängen lassen. Aber selbst wenn es so wäre – Jay wusste, dass Onkel Matt sich keinen Deut darum geschert hätte. Er liebte, wen er liebte. Und Aidan liebte er über alles. Die fehlende äußerliche Ähnlichkeit machten sie auf anderen Gebieten mehr als wett: Die beiden bildeten eine Einheit aus trockenen Biker-Witzen, Technik-Fachbegriffen, einer Vorliebe für Steaks und gesprächigem Schweigen.
»Ach, du bist’s«, murmelte Aidan und wischte sich die Hände an einem ölverschmierten Lumpen ab. »Matt ist noch nicht da.«
»Alles klar. Ich bin dann oben.« Damit war der Dialog schon wieder am Ende. Jay wusste immer noch nicht, ob er Aidan mochte. Aber die Art, wie sein Cousin ihm nun einen abschätzenden Blick zuwarf und sich schroff von ihm abwandte, zeigte ihm nur zu deutlich, dass Aidans Entscheidung in derselben Frage schon längst gefallen war. Die Schiebetür zur Werkstatt fiel mit einem Scheppern zu, gleich darauf erklang eine überlaut dröhnende Stimme. Aidan hatte den Fernseher voll aufgedreht, als wollte er Jay endgültig ausblenden. Der Nachrichtensprecher verkündete eine Sturmwarnung und zitierte Expertenmeinungen zum Thema.
Zwei Stufen auf einmal nehmend, hechtete Jay die Treppe in den ersten Stock hoch. Sobald er die Tür zu seinem Zimmer zugemacht hatte, atmete er auf. Zu Hause.
Der Raum war zwar kaum größer als eine Abstellkammer und das Bett bestand aus zwei übereinandergestapelten alten Matratzen, aber er gehörte ihm. Und durch das Fenster konnte er die Krone des Amberbaumes im Garten sehen. New York mit Blick ins Grüne – na ja, jetzt im Herbst war das Grün der spitzfingrigen Blätter schon braun gescheckt.
Feathers hechelte die Treppen hoch und kratzte an der geschlossenen Tür. Im Grunde hatte Jay seit seiner Ankunft den Hund häufiger gesehen als seinen Onkel. Aber das war Teil der Abmachung: Hier erwartete ihn keine fürsorgliche Gastfamilie. Er war willkommen, aber er musste sehen, wie er seinen Platz fand und zurechtkam.
Sobald er die Tür öffnete, stürmte der Hund in den Raum und warf sich mit einem zufriedenen Laut zwischen Winseln und Gähnen neben dem Bett nieder.
Jay streifte seine Schuhe ab und ließ sich auf die Matratzen fallen.
Einen Moment überlegte er, ob er seine Mails abrufen sollte. Sein Laptop stand auf dem Boden, das Kabel führte durch ein Bohrloch in der Wand. Anschluss à la Aidan, aber es funktionierte.
Doch dann zückte er nur sein Handy und den roten Zettel. Der Hund horchte auf, als er das Klacken der Tasten hörte, dann legte er den Kopf auf Jays Fußknöchel ab und schloss die Augen.
Sie meldete sich schon nach dem zweiten Klingeln.
»Hi Madison, ich bin’s.«
»Du kennst die Regeln wirklich nicht. Niemand ruft gleich am selben Tag an.«
Es klang nach einem Vorwurf, aber er konnte hören, dass sie beim Sprechen lächelte.
»Gut, ich merke es mir für den Fall, dass ich hier jemals ein Date haben sollte«, antwortete er ungerührt. »Soll ich dich am Montag abholen?«
»He, langsam. Wir treffen uns direkt am Kino, klar?«
»Um sieben?«
»Ja. Und komm nicht auf die Idee, in der Schule so zu tun, als hätten wir was miteinander.«
»Warum? Hast du Angst, dein Freund versucht, mich zu verprügeln?«
»Schönen Tag noch, Jay«, sagte sie mit gespielter Arroganz und legte auf. Jay ließ sich auf das Bett zurücksinken. Für einige Sekunden war er einfach nur glücklich. Feathers blinzelte und sah Jay von der Seite an. »Siehst du?«, sagte Jay. »Kraut hat doch eine Chance bei ihr.« Doch der Hund gab nur ein gelangweiltes Stöhnen von sich und schlief ein. Jay entspannte sich und blickte zur Decke. Direkt über ihm hing ein Ring aus Weidenzweigen, überspannt von einem Spinnennetz aus Schnüren – der Dreamcatcher, den sein Vater bei seinem Besuch vor sieben Jahren für ihn gemacht hatte. Eines der wenigen Dinge, die er seit seiner Ankunft hier ausgepackt hatte. Vielleicht war es keine gute Idee gewesen, den Ring aufzuhängen. Tagsüber konnte er sich gut ablenken, aber nun zog die Erinnerung ihn runter. Morgen packe ich ihn wieder ein , dachte er und schloss die Augen.
*
Er saß er auf einem Motorrad und fegte über eine verschneite Serpentinenstraße bergauf. Der Motor röhrte und übertönte das Heulen des Windes. Zu schnell , schoss es ihm durch den Kopf. Doch bevor
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