Zweilicht
widerwillig los. Der Reißverschluss von Jays Jacke schleifte mit einem unangenehmen Geräusch zwischen hornigen Fingernägeln entlang. Und Jay war, als würde er in diesem Geräusch Ivys Wispern hören. Achte auf die Details .
» Mir machst du keine Angst, Jay«, sagte sein Onkel bedrohlich sanft.
Der Glanz von Mondlicht und Feuerschein spiegelte sich in seinen Augen. Sie waren dunkel, fast schwarz.
Und mit einem Mal wusste Jay, was hier ganz und gar nicht stimmte.
Matt hat hellgrüne Augen.
Für den Bruchteil einer Sekunde erhaschte er das gefrorene Bild einer anderen Wirklichkeit: das Gesicht, das nur noch wenig dem seines Onkels ähnelte. Lippen, die sich über einem Raubtiergebiss wölbten, viel zu starke Kiefer. Und hinter ihm, auf dem Boden, etwas, was wie ein erlegtes Tier aussah. Fell, ein Bein, dunkle Flecken auf dem Boden. Jetzt konnte er den seltsamen Geruch einordnen, den er vorhin wahrgenommen hatte: frisches Fleisch und nasses Fell. Nass vom Blut.
»Wendigo«, flüsterte er.
Und dann zerbrach die Wirklichkeit in blitzlichthelle Momentaufnahmen: Matts Mund, der zu einem zahnbewehrten Schlund aufklaffte, Finger, die zu Klauen wurden, ein Gebrüll, das sein Herz aus dem Takt brachte und stocken ließ. Jay stieß sich ab – weg von dem Wesen, das auf ihn zustürzte .
Eindrücke flatterten an ihm vorbei wie Schnappschüsse, die ins Feuer fielen:
Aidan, der in diesem Augenblick mit dem Werkzeugkasten in die Küche trat und die Situation mit einem Blick erfasste. Der Werkzeugkasten glitt wie in Zeitlupe aus seiner Hand, traf mit einem verzerrten Scheppern auf und erbrach einen klingenden Schwall von Schrauben und Nägeln – im selben Augenblick, als Aidan sich mit voller Wucht gegen Matts Seite warf.
Etwas Scharfes, wie eine Kralle, ritzte an Jays Kehle entlang, dann fiel er. Grelle Zacken von Schmerz zuckten von seinem Genick bis in seine Augen. Die Sofalehne schrappte über seine Wange. Das Zimmer drehte sich um ihn – und verschwamm zu einem Ort voller Schatten und seltsamer Kreaturen. Feathers sträubte sein Fell, das nicht mehr hell war, sondern graubraun und viel länger. Er hörte noch, wie Aidan Matt anschrie mit einer dumpferen, fremden Stimme.
»Du bringst ihn nicht um! Du hast es ihr versprochen!«
Dann knipste sich auch der letzte Funke seines Verstandes aus.
5th avenue
i n irgendeinem Winkel seines Bewusstseins kauerte Jay, der Kämpfer mit dem kühlen Kopf, der wusste, dass er ohnmächtig war, und der in diesem Labyrinth aus Schwärze konzentriert nach einem Ausgang suchte. Es war die Erinnerung, die ihm schließlich die Tür öffnete. Mit ihr kehrte das Entsetzen zurück und stieß ihn ins Bewusstsein. Er lag immer noch in der Küche. Dort, wo er mit dem Hinterkopf gegen die Sofakante geschlagen hatte, pochte dumpfer Schmerz. Matt und Aidan waren nicht mehr da. Dafür bewachte Feathers ihn. Jay sah nur seine Beine unter dem Sofa, aber er konnte erkennen, dass er sich über das erlegte Tier hermachte. Das Rehbein wippte, als der Hund an ihm zerrte, so als würde es um Hilfe winken. Jay wurde so übel, dass er würgen musste. Angewidert wandte er den Blick ab – und entdeckte neben sich auf dem Boden ein paar Postkarten, die nicht ins Feuer gefallen waren – und das kleine wellige Foto von Matt und Robin. Sie waren Madison aus der Hand gefallen, als er sie vom Ofen weggezerrt hatte. Das brachte ihn zum nächsten Gedanken. Madison. Sie gehört dazu. Das schmerzte so sehr, dass der Schock sich löste. Aus tauber Kälte wurde Hitze, und aus der Fassungslosigkeit die glasklare, scharfkantige Gewissheit, dass er hier fortmusste. Robin hat es gewusst . Aber er ahnte nicht, dass Wendigo ihn längst gefunden hatte. Der nächste Gedanke war erschreckend logisch. Kein Wunder, dass er mich warnen wollte.
Es raschelte leise, als Jay das Foto und die Karte an sich nahm und in die Jackentasche schob. Der Hund verharrte, als würde er lauschen, dann zerrte er wieder an dem Wild.
Mühsam stemmte Jay sich hoch und kroch zur Terrassentür. Er schaffte es tatsächlich über die Schwelle, bis der Hund verstand, was vor sich ging. Sofort ließ er von der Beute ab und bellte drohend. Mit zitternder Hand tastete Jay in seine Tasche und war unendlich erleichtert, die braunen Samen zu finden. Bitte lass es funktionieren . Es klackte leise, als er die Samen auf die Schwelle streute. Feathers sprang ihm ein paar Schritte entgegen, doch als der letzte Baumsame die Linie schloss, blieb er mit
Weitere Kostenlose Bücher