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Zweilicht

Zweilicht

Titel: Zweilicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blazon Nina
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zitternden Läufen stehen und leckte sich verwirrt die Lefzen. Nach ein paar endlosen Sekunden trottete er zu seiner Mahlzeit zurück.
    *
    Es war gespenstisch, durch die Straßen zu laufen. In den Läden, in deren Schaufenstern das Kürzel 24 / 7 prangte  – 24 Stunden geöffnet, sieben Tage die Woche –, war Hochbetrieb. Jay sah Menschen hinter den Fenstern und dennoch fühlte er sich verloren. Bei jedem Motorradgeräusch fuhr er zusammen und versteckte sich, um dann nur noch schneller weiterzuhasten.
    Als endlich die Brooklyn Bridge in Sicht kam, lag über dem Fluss schon die erste Helligkeit des nahenden Morgens. An ihren Stahlseilen schien die Brücke über dem Flussnebel zu schweben. Die blauen Warnlichter blinkten und auf dem unteren Teil, dem Fahrbahnstreifen, schufteten Bauarbeiter. Schwer atmend blieb Jay vor der Absperrung stehen und sah mit fiebrigen Augen nach oben. Dort befanden sich die hölzernen Promenaden für die Jogger und Fußgänger, die rechts und links einige Meter oberhalb der Fahrbahn entlangliefen. Ein letztes Mal zögerte er, dann warf er alles, was er über Richtig und Falsch wusste, endgültig in den Fluss und kletterte über die Absperrung. Immer in Erwartung, dass gleich eine Sirene losgehen würde, lief er geduckt los.
    Niemand hielt ihn auf, die Bauarbeiter waren so in ihre Arbeit vertieft, dass sie ihn nicht einmal bemerkten. Das erste gemauerte Doppeltor mit den spitzen Giebeln schien höhnisch vor ihm zu schwanken, als wollte es von ihm wegtanzen. Jay biss die Zähne zusammen und lief weiter. Die Zeit schien zu verschwimmen, denn im nächsten Moment passierte er das Tor bereits und hörte nur noch das Geräusch seines Atems und das Dröhnen des Holzweges unter seinen Sohlen. Unter ihm wallte Nebel über den Fluss. Als würden die Tore wirklich in eine andere Welt führen.
    Anfangs bildete er sich ein, dass sein Spiegelbild ihm entgegenlief – weit entfernt, verschleiert von Nebelschwaden. Erst als die Gestalt ruckartig stehen blieb, während er weiterrannte, erkannte er sie. Unendliche Erleichterung durchflutete ihn. »Ivy!« Beim Klang ihres Namens ging in ihrem Gesicht die Sonne auf. Er wusste nicht mehr, wie er zu ihr gekommen war, das Nächste, was er wahrnahm: ihre Nähe, der Duft nach frischem Gras – und die Tatsache, dass sie zwar halb durchsichtig war, ihn aber immer noch anstrahlte.
    »Ich dachte schon, ich muss mir diesmal was einfallen lassen, damit du mich wieder siehst«, sagte sie mit einem Lachen. »Glaub nur nicht, dass ich dich noch einmal küsse.«
    Jay rang nach Luft. »Matt ist hinter mir her! Du hattest recht. Sie bewachen mich. Und Wendigo …«
    In der Ferne ertönte das Röhren eines Motorrads, das im Nebel wie ein Echo klang und Ivy das Lächeln vom Gesicht wischte. »Oh nein. Hast du sie etwa auf unsere Spur gebracht? Lauf!« Ein Stoß zwischen seine Schulterblätter, dann rannten sie schon Seite an Seite.
    Neben ihm nestelte Ivy im Rennen an ihrem Brustgurt, zerrte etwas hervor.
    »Lauf weiter!«, befahl sie ihm.
    Als er über die Schulter blickte, sah er gerade noch, wie sie ein faustgroßes Ei aus Metall an den Mund führte und mit den Zähnen einen Ring abriss, den sie zur Seite spuckte. Dann schleuderte sie das Ding mit einem gekonnten Wurf in den Nebel. Jay wusste, es konnte, es durfte nicht sein, aber als eine Explosion die Luft zum Beben brachte, begriff er, dass es tatsächlich eine Handgranate gewesen war. Der Knall dröhnte noch in seinem Schädel, als sie wenig später das andere Ufer erreichten und für ein paar Sekunden Luft schöpften.
    »Du … hast … die Brücke gesprengt!«, japste Jay.
    »Schön wär’s«, antwortete Ivy trocken. »Aber immerhin hat es ein kleines Stück weggefetzt, das reicht für einen Vorsprung. Komm mit!«
    *
    Es war nicht Mannahatta. Und es gab auch kein goldenes Licht und keinen verwunschenen Dschungel. Ganz im Gegenteil.
    In der fahlen Helligkeit eines blutleeren Sonnenaufgangs tauchten sie in die lichtfressenden Schluchten zwischen den Hochhäusern in einen lärmenden, pulsierenden Asphaltmoloch ein. Hier war der Takt schnell und hart, Hektik umspülte sie. Eine lange Schlange von Yellow Cabs – den gelben Taxis – hupte wie verrückt wegen eines Baufahrzeugs. Jay hatte nicht damit gerechnet, dass der Sturm in dieser Gegend so große Verwüstungen angerichtet hatte. Inmitten aufgerissener Straßen und entwurzelter Sträucher balancierten Damen in Designerklamotten auf hochhackigen Stiefeln,

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