Zweilicht
vorne. Viel grober, als er wollte, stieß er Madison von sich. Sie war leichter, als er gedacht hatte, und sein Stoß katapultierte sie aus seiner Umarmung. Überrascht schrie sie auf, dann fiel sie auf den Boden. Noch im selben Atemzug kam sie auf die Beine und starrte ihn fassungslos an. Ihr Gesicht war so blass, dass es wie ein weißer Schemen wirkte. Wirres Haar umspielte es, als würde Wind an den Strähnen zupfen.
»Ich verstehe dich nicht«, stieß sie gequält hervor. »Warum …«
Dann fiel ihr Blick auf den Traumfänger und sie verstummte abrupt und zog scharf die Luft ein. Diesen Gesichtsausdruck kannte er an ihr nicht. Eine kalte Wut, die die Luft knistern ließ. Der Mond ließ ihr Haar unirdisch bläulich leuchten.
»Na ja, vielleicht verstehe ich es ja doch«, sagte sie tonlos. Sie sprang in den Schatten, im nächsten Moment stürmte sie schon mit einem Bündel unter dem Arm aus dem Zimmer. Feathers fegte hinterher. Die Tür fiel mit einem krachenden Knall zu. Und dann drehte sich von außen der Schlüssel im Schloss.
Jay fluchte und hechtete aus dem Bett. Die Tür widerstand seinem Tritt. Aber das Fenster war offen, die Leiter lehnte noch daran. Kurz entschlossen griff er sich im Dunkeln seine Fleece-Jacke und machte sich ans Klettern.
Komischerweise stand die Tür zum Garten offen. Und schon durch das Küchenfenster konnte er erkennen, dass Madison vor der offenen Ofenklappe kauerte. Sie war immer noch nackt, und sie sah sich nicht einmal nach ihm um, als er in die Küche stürzte. Ihr Gesicht glühte gespenstisch hell auf, als sie etwas ins Feuer warf. Zu dem seltsam modrigen Geruch nach Eisen und nassem Hund, der die Küche erfüllte, gesellte sich der trockene Duft von verbranntem Papier. Jetzt erkannte Jay, was sie aus seinem Zimmer mitgenommen hatte. Zwischen ihren Knien klemmte sein Rucksack!
»Was machst du da?«
Madison blickte auf. Erst dachte er, dass sie lachte, aber ihr Mund war nicht zu einem Lachen verzerrt, sondern zu einem Weinen. Ströme von Tränen liefen über ihre Wangen. »Ich befreie dich von deinen Erinnerungen. Du lebst in der Vergangenheit. Dein Vater steht zwischen uns. Du musst ihn endlich vergessen, dann erst bist du frei für mich!«
Blitzschnell griff sie in den Rucksack und zog ein paar Postkarten hervor. Wie in Zeitlupe sah er, wie die Karten ins Feuer flatterten. Berge und Landschaften, Seen und Wolfsgesichter verglühten im Feuer.
Die Wut flammte so heiß und plötzlich auf, als wäre in seiner Brust ein Feuerball explodiert. Er spürte kaum, wie er losschnellte. Sie schrie, als er sie mit einem groben Ruck auf die Beine zog und vom Ofen wegschleuderte.
Furcht flackerte über ihre Züge. Das war wie ein Schock, der ihn zu sich selbst zurückkatapultierte. Ist das alles, was du kannst? Das war Charlies Stimme.
Als er zurückwich, stieß Madison sich von der Wand ab und flüchtete an ihm vorbei, durch die Terrassentür in den Garten. »Madison, warte!«
Er rannte zur Tür und sprang über die Schwelle. Madison huschte über den Rasen und rannte auf Lindas Haus zu. Lichtschein fiel durch indigofarbene Gardinen.
Jay rannte los – und wurde von einem Schlag gegen die Brust gebremst. Jemand packte ihn an den Schultern und schleuderte ihn über die Schwelle zurück in die Küche. Hart kam er auf dem Boden auf und schlitterte über knirschenden Sand, bis das Sofa vor dem Kamin ihn bremste. Gebell hallte schmerzhaft in seinen Ohren wider. Weiße Fänge glänzten im Mondlicht auf. Feathers stand mit gesträubtem Fell neben ihm.
»Lass sie«, sagte Matt drohend. Vor dem kobaltblauen Nachthimmel wirkte er noch mehr wie ein Riese. Was macht er mitten in der Nacht im Garten?
Matt packte ihn am Kragen, riss ihn hoch und zog ihn so nah zu sich heran, dass das wütende Funkeln seiner Augen direkt über Jay schwebte. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass er trotz seiner Größe zu seinem Onkel aufblicken musste. Noch nie war er ihm so nah gekommen, und jetzt erahnte er, wie viel Kraft der große Mann tatsächlich hatte.
»Mach ihr noch einmal Angst und du kannst dir aus dem Schürholz ein neues Gebiss schnitzen. Haben wir uns verstanden, Jay?«
Ein paar Sekunden starrten sie einander an, ein stummes Kräftemessen, bei dem jeder von ihnen wusste, dass Jay im Zweifelsfall den Kürzeren ziehen würde. Dennoch nahm er seinen Stolz zusammen und antwortete ebenso leise und drohend: »Lass mich los, Matt.«
Zu seiner Überraschung lockerte sich Matts Griff. Aber er ließ nur
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