Zweilicht
Straße auf!«
»Meinst du, das weiß ich nicht?«
Sie wand sich unter ihm hervor und rappelte sich auf. Hinter ihnen dröhnte die Treppe immer noch. Fremde Schritte. Und noch bevor er sich umwandte, wusste Jay, dass sie nun in der Falle saßen. Am Ende der Brücke der freie Fall – mindestens acht Meter unter ihnen lag die befahrene Straße. Und vorne …
Jay drehte sich um und erstarrte. Es war nicht Matt. Es war Madison.
Sie war völlig außer Atem, ihr langes Haar war nass vom Regen und klebte an ihren Schultern und Armen. Ihre Augen leuchteten golden im kalten blauen Licht des Tages. Als sie ihn sah, erhellte ein erleichtertes Lächeln ihr Gesicht.
Dann entdeckte sie Ivy. Von einer Sekunde auf die nächste wich alle Farbe aus ihrem Gesicht. Fassungslosigkeit schien ihre Züge völlig aufzulösen.
Ivy sprang vor Jay, als wollte sie ihn schützen. Mit ausgebreiteten Armen stand sie da, leicht vornübergebeugt, als sei sie bereit zum Kampf.
Madisons Augen wurden so schnell dunkel, als hätten Wolken zwei Sonnen verdüstert, was ihrer Schönheit etwas Scharfes, Gefährliches verlieh.
»Lass ihn in Ruhe«, sagte sie mit einer Stimme, die tiefer und drohender war, als Jay sie kannte. »Er gehört mir.«
»So? Tja, dann musst du ihn dir schon holen«, erwiderte Ivy mit einer Kaltschnäuzigkeit, die Jay einen Schauer über den Rücken jagte. »Dafür musst du aber erst an mir vorbei. Und über mich hast du keine Macht.«
Madison holte Luft. Ihre Nasenflügel blähten sich, sie richtete sich auf und schien ein ganzes Stück zu wachsen. Langsam streckte sie die Hand aus. »Das brauche ich auch gar nicht«, sagte sie sanft. Ihr Blick richtete sich auf ihn. »Jay? Komm zu mir.«
Ihre Stimme hatte den lockenden Tonfall bekommen, den Jay so gut kannte. Verrückterweise reagierte er darauf. Alle Härchen an seinen Armen sträubten sich. Irgendetwas in ihm wollte tatsächlich, dass er zu ihr ging. Aber als er sich bewegte, gruben sich Ivys Fingernägel wie Krallen in sein Handgelenk. »Hör nicht auf sie!«
Er sah es nicht, aber er erahnte an der Bewegung ihrer Schulter, dass sie nach der nächsten Granate griff. Über Ivys Schulter hinweg sah er Madison. Das ist immer noch sie , dachte er. Ivy schrie auf, als er sie mit seiner freien Hand packte und ihr den Arm nach unten drückte. Die Granate fiel aus ihrer Hand, prallte mit einem metallischen Laut auf die Brücke, tanzte bergab – und blieb außerhalb ihrer Reichweite zwischen zwei Streben stecken.
»Na klasse!«, fauchte Ivy.
»Haltet sie auf!«, schrie Madison. Die Brücke vibrierte unter Schritten. Atemlos tauchte eine zweite Gestalt neben Madison auf. Jenna. Und dann musste Jay zweimal blinzeln, um zu begreifen, was er da sah: Linda hielt sich nicht mit der Treppe auf. Aus dem Nichts war sie aufgetaucht, packte einfach die Stahlverstrebungen – und hangelte sich außen daran hoch. Gespenstisch schnell, mit grotesk geschmeidigen Bewegungen, die nichts Menschliches hatten.
Die Brücke sackte unter dem Gewicht so vieler Körper weiter ab. Ivy taumelte gegen ihn. Er packte sie um die Taille und krallte sich mit der linken Hand an eine Strebe, während sein rechter Fuß schon über den scharfkantigen Rand rutschte. »Lass los!«, schrie Ivy ihn an. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass Ivy zutreten würde. Ihm wurde schwarz vor Augen, als ihre Ferse sein Handgelenk traf. Er konnte sich nicht länger halten, sein Fuß rutschte ab, dann fielen sie.
Der Asphalt raste ihm entgegen. Acht Meter , dachte er. Keine Chance . Und dennoch reagierte sein Körper ganz von selbst. Ivy entglitt ihm. Seine Beine streckten sich, bereit, sich so gut abzufedern, wie es ging. Bitte lass uns wenigstens überleben! Dann spürte er schon den Aufprall, die Härte unter seinen Sohlen.
Und danach … nichts.
Er versank im Asphalt. Genauer gesagt, in weicher, nasser Kälte. Das Letzte, was er sah, bevor schwarze Wogen über ihm zusammenschlugen, war ein Auto, das hupend direkt auf ihn zuraste. Er hörte das Motorengeräusch noch, als die Schwärze ihm schon die Sicht nahm. Dann wurde es still um ihn. Gurgeln und Rauschen hüllte ihn ein. Wasser drang in seine Nase und ließ ihn unter Wasser würgen. Luftblasen kitzelten seine Haut. Seine Kleidung sog sich voll. Als er wieder an die Oberfläche kam, waren die Autos verschwunden.
Dort, wo eben noch die Straße gewesen war, floss ein schlammiger Fluss zwischen überwucherten Ruinen von Hochhäusern, die hoch wie
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