Zweilicht
…«
»Liberty, geh einfach, okay?«
»Ah, ich verstehe schon.« Liberty legte verschwörerisch den Zeigefinger über die Lippen. »Du willst ganz heimlich Liebeskummer haben.«
Und wenn du kein Geist wärst, würde ich dich jetzt liebend gerne erwürgen . Aber im nächsten Moment war er allein, nur der ausgestopfte Löwe in der Vitrine neben dem Fenster starrte ihn immer noch aus blassen Glasaugen an, die im Licht sicher gelb waren. Aber jetzt stand nur ein fahler Sichelmond am Himmel. Jay verschränkte unbehaglich die Arme und lehnte sich an die Wand zurück. Es war, als hätte die Trugwelt witternd seine Spur aufgenommen und ihn im Museum aufgespürt. Das Lied des Straßensängers kam ihm in den Sinn. Und gleichzeitig war Madison da. Er versuchte, sie mit dem Ungeheuer in Verbindung zu bringen, das ihn und Ivy heute beinahe aufgespürt hätte, aber es gelang ihm nicht. Alles, was er sah, waren ihr Lächeln und ihre Angst in den letzten Minuten ihrer Begegnung. Noch nie hatte er sich so zerrissen gefühlt, es war wie ein Lavastrom in seiner Seele, der breiter wurde und ihn zu verbrennen drohte. Er tastete nach dem länglichen Stein und stellte sich mit aller Kraft vor, dass es sein Handy war. Vielleicht ist die Illusion, eine SMS zu schreiben, besser als nichts? Ich habe schließlich nichts mehr zu verlieren. Ganz von selbst lockerte seine Hand das Federband, um sich ein paar letzte Augenblicke seiner alten Wirklichkeit zu stehlen. Doch dann widerstand er dem sachten, lockenden Ruf und ballte die Hände zu Fäusten.
Er schob den Ärmel hoch und betrachtete die Narben der Wunden, die Matt ihm zugefügt hatte. Zwei tiefe Kratzer wie von Klauen. Von den Fäden, mit denen Columbus die Haut mit groben, schiefen Stichen zusammengenäht hatte, sah man nur noch die frisch verwachsenen Einstiche. Initiationszeichen , dachte er. Das ist dein neues Leben. Kämpfen und Überleben. So sieht es aus, Jay Callahan, also bereite dich darauf vor. Und außerdem wurde es definitiv Zeit, dass er ohne Ivy klarkam. Er bewegte die Finger und drehte die Hand im Gelenk. Es zog, aber es ließ sich aushalten. Dann rief er sich seine Karatestunden in Erinnerung und versuchte sich zaghaft an der ersten Übung.
*
Mo krampfte ihre Finger fester in Bans Nackenfell. Bei jedem Schritt spürte sie seine gewaltigen Rückenmuskeln, und obwohl er langsam lief, musste sie sich festklammern, um nicht von seinem Rücken zu rutschen.
»Da oben ist auch alles voller Federspuren«, sagte sie. »Halt an.«
Ban gehorchte. Night lief noch ein Stück voraus, dann sah sie sich um.
»Ich glaube, sie sind in dem großen Gebäude da drüben.«
»Und wenn das auch nur Tarnung ist?«, meinte Ban abfällig. »Du glaubst doch nicht wirklich, sie werden den Fehler machen und sich nur auf Federn verlassen?«
»Jeder Mensch macht Fehler«, murmelte Mo. »Und Cinna zu töten, war der größte von allen.«
*
Jay hätte schwören können, dass er nicht geschlafen hatte. Aber nach seinen Übungen, die ihn noch entmutigend viel Kraft kosteten, musste er eingenickt sein. Der Mond war weitergewandert und ließ die Löwenaugen im Schatten zurück. Und er hörte einen fremden Atem. Er öffnete die Augen. Jemand saß neben ihm auf dem Fell und starrte ihn an. Er konnte den Glanz von Augen erahnen und einen dunklen Umriss. Es war wie in seinem Zimmer in Matts Haus. Déjà-vu .
Erschrocken fuhr er hoch. »Madison?«
»Hab ich es mir doch gedacht«, sagte eine leise Stimme. »Du vermisst sie und träumst von ihr.«
Ihm fiel ein Stein vom Herzen. »Ivy!«
»Schön, dass du mich trotzdem noch erkennst. Rutsch rüber!«
Sie streckte sich auf dem Lager aus, tastete nach seiner Schulter und zog ihn zu sich herunter. Noch mehr verwirrte es ihn, dass sie so nah an ihn heranrückte, dass sie Schulter an Schulter auf dem Bärenfell lagen. »Was soll das werden?«, fragte er gereizt.
»Was denkst du denn?«
»Ist es mit Beren zu langweilig geworden? Ich will allein sein, klar?«
»Klar. Damit sie dich ungestört zu sich locken kann. Träum weiter, leichtes Opfer.«
»Solltest du nicht bei deinem Freund schlafen?«, erwiderte er ebenso unfreundlich.
Das schien sie zu amüsieren. »Beren?«, meinte sie mit gespielter Ahnungslosigkeit. »Och, die Winternächte werden noch lang genug.«
»Okay, das reicht. Raus aus meinem Bett!«
Zu seinem Ärger lachte sie, als er sie vom Lager stoßen wollte, sie wich ihm aus und rollte katzenhaft flink herum.
»He, spring mir nicht
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