Zweilicht
jetzt eine Antwort. Irgendetwas liegt ihr wohl doch an dir. Beziehungsweise: lag .
Er rappelte sich auf und wollte ihr hinterherlaufen. Dabei stolperte er über den aufgebogenen Rand des Fells. Irgendetwas raschelte auf dem Boden, Perlen rollten über Marmor. Verwirrt sah er sich um. Im Licht der Straßenbeleuchtung hatten die Glasaugen des Löwen einen vorwurfsvollen blauen Glanz bekommen. Draußen auf der Straße sprang eine Ampel gerade von Rot auf Grün. Ein Auto gab Gas und raste mit röhrendem Motor davon.
*
»Ich habe ihn!«
Ban blieb so abrupt stehen, dass Mo noch im Schwung von seinem Rücken rutschte und auf dem Boden aufkam. Night sprang herbei und auch Coy, der ihnen bisher nur in respektvoller Entfernung hinterhergeschlichen war, wagte sich etwas näher heran. Schon wieder trug er die Gestalt des schwarzhaarigen Jungen, von der er offenbar nicht lassen konnte.
Die beiden Ältesten sahen Mo an, lauernde Erwartung vibrierte in der Luft.
Mo wandte sich nach rechts und zeigte auf das riesige Bauwerk, um das sie schon die ganze Zeit herumgeschlichen waren. Es sah aus wie ein Schloss, ganz links erhob sich sogar ein Turm. Der Geist dieses Hauses barg Leere und tote Lebewesen, die ihre eigenen Träume vom Meer und von fernen Ländern träumten. Aber dazwischen fingen sich ganz neue Bilder, kaum einige Stunden alt, die nur Jay gehören konnten: Matts Haus, die Schule, das Kino und sie selbst – Madison! Einen Augenblick war es ein freudiges Erschrecken, als sie wieder einen Blick in die Welt warf, die ihnen beiden gehörte. Rasch verdrängte sie diese Regung und suchte weiter. Auch andere Menschenträume hallten in diesem Gebäude wider, erschreckend viele.
»Es sind mehr, viel mehr«, flüsterte sie. »Drei, vier, fünf … sie alle verstecken sich darin! Wie gut müssen sie sich getarnt haben, dass sie uns nie aufgefallen sind?«
»Wir werden die Kojoten brauchen«, sagte Night und gab Coy ein Zeichen. »Die Menschen werden ihn sicher verteidigen.«
Mo suchte nach dem Mädchen, und es gab ihr einen Stich, dass Jay sie tatsächlich in seinen Träumen gesehen hatte. Ein Augenblick des Glücks im Sonnenlicht zitterte in der Luft, ein Moment der Nähe zwischen den beiden. Mo biss die Zähne zusammen – und dann horchte sie auf. Ganz überraschend fing sie einen neuen Traum ein. Er war so intensiv, dass sie nicht nur das Wispern hörte, sondern ihn sah, als sie die Lider schloss. Bilder flackerten auf wie Schemen. Mo bekam Gänsehaut, sie wollte den Blick abwenden, so schrecklich war das, was sie sah, und dennoch konnte sie nicht anders, als hinzusehen. »Das hat sie geträumt«, murmelte sie. »Immer und immer wieder, so lange, bis dieser Traum ihr eigenes Gespenst wurde.«
»Ban? Treiben wir sie raus!«, sagte Night mit harter Stimme.
*
Ich sehe das Licht der Trugwelt. Jay brauchte viel zu lange, um sich mit siedend heißem Schreck klar zu werden, was das bedeutete. Sie waren hier – und seine Deckung funktionierte nicht mehr. Hastig griff er zu seinem Federband, aber es war nicht mehr da. Der Knoten musste sich gelöst haben. Und das war nicht das Schlimmste. In der allerersten Ahnung von Helligkeit sah er das Unglück: Um das Lager hatte Ivy einen Zirkel von Federn, Zweigen und Perlen gelegt, ein kompliziertes Muster, das nun an der Stelle, an der er gestolpert war, zerstört war. Hastig schob er die magischen Gegenstände an ihren Platz zurück. Er schlang sich das Federband wieder um seine Hüfte und machte sich auf die Suche nach Ivy.
hudson river
w eit kam er nicht.
Noch bevor er die Halle im Erdgeschoss erreicht hatte, explodierte eine Scheibe in einem Hagel von Splittern und Holz. Etwas Riesiges, Schwarzes landete auf dem Boden, fegte über den Stein und krachte mit voller Wucht gegen eine Vitrine. Glas zerbrach, ein ausgestopfter, ziemlich verschimmelter Marder schlitterte Jay zwischen die Füße. Er stolperte darüber, fing sich und sprang zur Seite. Keine Sekunde zu früh. Als Matt sich aufrichtete und die Splitter aus dem Haar schüttelte, hangelte sich bereits Linda durch das Trümmerloch in der Wand und landete mit einem irrwitzigen Stunt-Sprung mitten auf dem Flur. Eine Staubwolke erhob sich und hüllte die massige Frau in einen hellen Schleier.
Es blieb keine Zeit für Angst, die Welt schnurrte zu einem donnernden Pulsschlag und dem Trommeln seiner Sohlen auf Steinboden zusammen. Die Tür zur Haupthalle schien auf ihn zuzuspringen, so schnell raste er auf sie zu. Er brach
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