Zweilicht
gleich ins Gesicht«, meinte sie und schlang die Arme um die Knie. Im Gegenlicht des Fensters konnte er ihre Silhouette und ihr wirres, kurzes Haar gestochen scharf wie einen Scherenschnitt erkennen. »Ich beschütze dich, deshalb bin ich hier. Das war sehr knapp heute, ich will kein Risiko eingehen. Noch sind wir nicht in Sicherheit. Aber …«, jetzt klang leiser Spott in ihrer Stimme, »… man könnte ja fast denken, du bist eifersüchtig auf Beren.«
»So eifersüchtig, wie du auf Madison bist.«
Sie stieß ein abfälliges Schnauben aus. »Eifersüchtig«, murmelte sie. »Das würde dir so passen.«
Eine Weile schwiegen sie, und Jay dachte schon, sie würde gehen, stattdessen kroch sie wieder ein Stück zu ihm und legte sich neben ihn. Die Luft schien zu vibrieren, Irritation und Anspannung schwangen darin mit. Er wurde nicht schlau aus ihr – und gleichzeitig ging ihm Madison nicht aus dem Kopf. Sie kennt den Namen Jay Callahan, dachte er. Aber warum …
»Woran denkst du?«
»An Namen.«
»Jay ist ein guter Name. Der Eichelhäher steht für die Verbindung von Himmel und Erde und die richtige Anwendung von Kraft – na ja, das musst du vermutlich noch üben, wenn es stimmt, was Columbus erzählt.«
»Sehr witzig«, erwiderte er trocken und verschränkte die Arme. Aber Ivy redete weiter, als würde sie versuchen, sich selbst abzulenken.
»Und weißt du, warum man einen Kojoten Zweiherz nennt? Er ist tückisch und führt die Leute gerne hinters Licht. Jede Ordnung ist ihm zuwider, er verursacht mit Begeisterung Chaos und bringt alles durcheinander.«
»Dann weiß ich ja, warum sich mein Vater Zweiherz nannte«, murmelte er. »Wenn jemand alles durcheinanderbringen konnte, dann war er es.«
Und du auch, Ivy. Offenbar finde ich Chaoten unwiderstehlich.
Er ärgerte sich über sich selbst, weil er trotz allem ihrer Nähe kaum widerstehen konnte. Und wieder spukte ihr Kuss in seinem Kopf herum, und er wusste nicht, ob er sie aus dem Bett werfen oder an sich ziehen wollte.
»Du bist nicht wie dein Vater«, sagte sie leichthin. »Wenn ich einen Namen für dich finden müsste, würde ich dich Zweilicht nennen – du siehst beides, das Licht der Geisterwelt und die Menschenwelt. Das ist kostbar, weißt du?«
Ja, ganz tolles Talent, ich kann viel damit anfangen .
»Was willst du wirklich hier?«, brach es aus ihm heraus. »In der einen Minute küsst du mich, dann rennst du zu Beren. Und jetzt, in der letzten Nacht vor dem Lager, kommst du ausgerechnet zu mir. Was zum Teufel soll ich davon halten?«
Sie schwieg, und als sie endlich wieder etwas sagte, enttäuschte es ihn maßlos, dass sie ihm wieder auswich.
»Erstens ist das hier mein geheimer Raum im Museum«, sagte sie kühl. »Hierher komme ich, wenn ich allein sein will. Ich schlafe auch oft hier, also bist eigentlich du der Eindringling. Und zweitens: Das hier ist die letzte Nacht ohne all die anderen. Das Versteck in diesem Jahr ist ziemlich klein. Wir werden uns nicht aus dem Weg gehen können.«
»Und deshalb kommst du her, um diese letzte Nacht hier mit mir statt mit deinem Freund zu verbringen?«, spottete er. »Bist du sicher, dass du weißt, was du willst? Ich weiß jedenfalls, dass ich keine Lust habe, den ganzen Winter dabei zuzusehen, wie du deinem Romeo in den Armen liegst.«
»Romeo? So hat dich der hungrige Geist genannt. Was bedeutet dieser Name?«
»So heißt ein Mann aus einer sehr alten Geschichte«, erwiderte er unwillig.
»Ist das ein Märchen?«
Nein, Klassenlektüre im Wahlkurs. »Nein, kein Märchen. Es geht um ein Liebespaar, Romeo und Julia. Ihre Familien sind bis aufs Blut verfeindet, aber sie verlieben sich trotzdem ineinander, obwohl es gefährlich ist.«
Ivy rückte näher an ihn heran und lehnte den Kopf an seine Schulter. Diese Geste brachte ihn endgültig zur Verzweiflung.
»Erzählst du mir die ganze Geschichte?«, bat Ivy. »Und sie gehört nur uns beiden – wir erzählen sie niemandem weiter.«
»Warum?«
»Weil Geheimnisse die einzigen Räume sind, die wir im Winter miteinander teilen können und für uns allein haben.«
Es verschlug ihm den Atem, als sich ihre Finger mit den seinen verflochten. »Das ist nur zur Sicherheit«, sagte sie betont sachlich. »Klar?«
Er fuhr hoch. »Was für ein Spiel spielst du mit mir, Ivy?«
»Ich verstehe nicht, was du meinst.«
»Ich glaube, du verstehst sehr gut. Bist du mit Beren zusammen, ja oder nein?«
»Das ist meine Sache, oder?«
»Der Kuss von vorhin ist
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