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Zweyer, Jan - Rainer

Zweyer, Jan - Rainer

Titel: Zweyer, Jan - Rainer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Geheimnis
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Hinweis über dem Eingang: Nächster Zug Richtung Strünkede in zwei Minuten. Rainer rannte die Treppe hinunter und erreichte die Bahn im letzten Moment. Er hoffte, dass sein Busfahrschein seine Gültigkeit noch nicht verloren hatte.
    Am Endpunkt Strünkede überquerte er die Bahnhofsstraße.
    Der Schnee war liegen geblieben. Der abendliche Berufsverkehr quälte sich im Schritttempo durch den Matsch.
    Aus dem Schlosspark näherte sich eine dunkle Gestalt, die ihn ansprach: »Guten Abend, Herr Esch. Kommen Sie bitte mit.«
    Rainer sah den Mann vor ihm verdutzt an. Der Fremde war höchstens zwanzig Jahre alt. Der Unbekannte drehte sich und stapfte vor Esch durch den Schnee. Rainer beeilte sich, ihm zu folgen. Nach gut hundert Metern bemerkte der Anwalt im Lichtkegel unter einer Laterne eine weitere Gestalt. Rainers Begleiter zeigte auf den Wartenden. Der Anwalt ging zu der Laterne.
    Ein alter Mann, den Rainer zu kennen glaubte, sprach ihn an:
    »Entschuldigen Sie bitte die Unannehmlichkeiten, aber mein Enkel«, er blickte zu dem jungen Mann hinüber, der einige Meter entfernt stehen geblieben war, »ist ein begeisterter Leser von Kriminalromanen. Und da Georg Pawlitsch so unverhofft ums Leben kam, wollte er mich beschützen.« Der Alte lachte leise. »Ich wollte ihm das Vergnügen nicht verderben. Deshalb das etwas, sagen wir: ungewöhnliche Prozedere. Gehen wir einige Meter durch den Park? Ich liebe es, durch frisch gefallenen Schnee zu laufen. Er knirscht so schön unter den Schuhen, finden Sie nicht auch? Das erinnert mich an meine Kindheit.«
    Der Mann sprach mit einem kaum merklichen, harten Akzent. Rainer schaute ihn prüfend an. Da fiel ihm ein, wo er ihn schon einmal gesehen hatte: Im Kleinen Café! Der Mann hatte dort mit einer Frau gesessen.
     
    »Warum konnten wir nicht im Café miteinander reden? Sie waren doch da?«, fragte Esch. »Wer sind Sie? Und welche Informationen können Sie mir…«
    »Nicht so schnell. Eins nach dem anderen. Zunächst: Ich wurde unter dem Namen Pjotr Rastevkow geboren. Heute heiße ich anders. Dieser Name ist für Sie aber ohne Belang.
    Merken Sie sich nur Pjotr Rastevkow. Ich habe meinen Namen schon kurz nach dem Krieg geändert. Und was fragten Sie…?
    Das Café, ja. Haben Sie mich wieder erkannt? Gute Beobachtungsgabe! Ich wollte Sie sehen, bevor ich mit Ihnen spreche. Mir einen Eindruck verschaffen.«
    Sie gingen langsam weiter in den Schlosspark hinein. Der Enkel Rastevkows folgte ihnen.
    »Ich habe Ihren Namen in der Zeitung gelesen. In einem Bericht über die Ermittlungen der Polizei im Mordfall Pawlitsch. Ich habe lange überlegt, ob ich mit Ihnen reden soll.
    So, wie ich mit Georg Pawlitsch geredet habe.«
    Rastevkow griff in seine Manteltasche und zog eine Schachtel Zigaretten hervor. »Rauchen Sie? Russische. Die gibt es seit einigen Jahren auch hier bei uns. Mein Arzt hat es mir zwar verboten, aber was verbieten Ärzte einem nicht alles.«
    Wieder ließ Rastevkow sein heiseres Lachen hören. Er hielt Rainer die Packung hin. Esch schüttelte den Kopf und steckte sich eine Reval in den Mund.
    »Auch nicht viel besser als meine«, kicherte der Alte und knickte das Mundstück.
    Rainer gab ihm Feuer. Über die Flamme des Feuerzeugs hinweg blickte Rastevkow sein Gegenüber aus dunklen, traurigen Augen an und sagte unvermittelt: »Wenn ich Ihnen alles erzähle, was ich weiß, müssen Sie mir eines versprechen: Sie dürfen nie versuchen, mich zu finden oder meinen jetzigen Namen herauszubekommen. Niemals. Wir werden uns nach diesem Abend nicht mehr sehen.« Er nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch seiner Zigarette in die kalte Abendluft.
    »Versprechen Sie das?«
    Esch nickte.
    »Gut. Ich stamme aus einem kleinen Dorf in Wolhynien, das liegt in der Ukraine, in der Nähe der Stadt Korosten. Dort lebten auch viele Wolga-Deutsche. Kennen Sie zufällig Korosten?«
    Rainer schüttelte den Kopf.
    »Macht nichts. Hätte ich mir denken können. Liegt nordwestlich von Kiew. Ich war 1941 etwa fünfzehn Jahre alt.
    Vielleicht war ich auch vierzehn oder schon sechzehn, ich weiß das nicht so genau. In unserem Dorf gab es kein…
    Standesamt, würden wir heute sagen. Ich wurde im Januar geboren, während der Jahre des großen Hungerns. Das genaue Geburtsdatum spielte damals keine Rolle. Sie müssen sich vorstellen: Viele der Neugeborenen überlebten den Winter nicht. Da machte es keinen Sinn, durch meterhohen Schnee tagelang bis in die Kreisstadt zu laufen, um ein Balg registrieren

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