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Zweyer, Jan - Rainer

Zweyer, Jan - Rainer

Titel: Zweyer, Jan - Rainer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Geheimnis
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zu lassen, das bei der Rückkehr vielleicht schon tot war, verstehen Sie?« Rastevkow lachte wieder und wurde dann ernst. »Es war Spätsommer, als die Deutschen kamen. Das Gros unserer Soldaten hatte, so erzählten die Alten, sich schon einige Tage vorher weiter nach Osten abgesetzt. Kleinere Scharmützel der Roten Armee mit den unaufhaltsam vordringenden deutschen Truppen sollten lediglich den Rückzug unserer Soldaten decken. Wir hatten schon seit Tagen das Donnern der schweren Artilleriegeschütze gehört, aber keine Soldaten gesehen, weder russische noch deutsche. Und dann, an einem Morgen, waren die Deutschen plötzlich da.
    Einfach so.« Der Alte zog an seiner Zigarette. Sie war ausgegangen. Rainer gab ihm erneut Feuer.
     
    »Danke. Die Panzer rollten ohne anzuhalten über unsere Dorfstraße. Es staubte schrecklich. Dann kamen die motorisierten Einheiten. In endlosen Kolonnen zogen sie vorüber. Krad über Krad, LKW an LKW. Geschütz folgte Geschütz. Und dann die Infanterie. Tausende von Soldaten. Ich hatte noch nie vorher so viele Menschen gesehen, geschweige denn so viele Soldaten. Drei Tage rollte die Armee durch unser Dorf, dann war alles vorbei. Kein Schuss fiel. Für uns ist der Krieg vorbei, dachten wir.«
    Rastevkow blieb erneut stehen und sah Rainer an. »Angst hatte eigentlich keiner. Fast jede Familie hatte in den schrecklichen Säuberungen der 30er-Jahre Angehörige verloren. Selbst in unserem kleinen Dorf am Rand der Welt.
    Der mächtige Arm des großen Stalin reichte weit. Schlimmer als unter Stalin würde es unter Hitler auch nicht werden, hofften wir. Wir glaubten wirklich, es würde nicht schlimmer.
    Welch ein Irrtum!« Pjotr Rastevkow hustete, griff in seine andere Manteltasche und zauberte einen Flachmann heraus.
    »Wodka. Hilft gegen die Kälte. Und die Erinnerungen.«
    Er hielt Rainer die Flasche hin. Der zögerte einen Moment, nahm dann aber doch einen tiefen Schluck. Das Zeug brannte höllisch in der Kehle.
    »Balsam für die wunde russische Seele«, kicherte Rastevkow und verstaute die Flasche wieder in seinem Mantel. »Eine Woche später kamen andere Soldaten. Sie hatten Totenköpfe und Runen am Revers ihrer schwarzen Uniformen – die SS.
    Sie trieben die gesamte Bevölkerung mit Waffengewalt auf dem Dorfplatz zusammen. Sie durchkämmten jedes Haus, jeden Schuppen. Keiner entkam ihnen. Die Dorfbevölkerung war verängstigt. Die Deutschen sprachen kaum Russisch. Wir verstanden nur ein Wort: Dawai, dawai! Schnell, schnell! Im Dorf lebten damals etwa zweihundert Menschen, nur Frauen, Kinder und Alte. Die Männer zwischen achtzehn und fünfzig waren alle schon vor Monaten eingezogen worden, sie dienten in der Roten Armee. Dann begann die SS, alle männlichen Jugendlichen, so etwa ab vierzehn, fünfzehn Jahren, auf einen Lastwagen zu verladen. Ich gehörte auch dazu. Wir waren ein gutes Dutzend auf der Ladefläche. Sie fesselten unsere Hände und Füße und banden uns aneinander fest. Ich war einer der Letzten, die auf den LKW kamen. So musste ich alles mit ansehen.«
    Sie hatten das Stadion des Fußballvereines Westfalia Herne erreicht.
    »Möchten Sie noch einen Schluck?«, bot Rastevkow dem Anwalt an. Der lehnte ab.
    »Wie Sie wollen.« Pjotr Rastevkow trank. »Wir sollten zurückgehen. Es fängt gleich wieder an zu schneien. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja… Plötzlich begannen Maschinengewehre zu rattern. Der Kugelhagel traf zuerst die ersten Reihen der Eingekesselten. Die Menge schrie vor Schmerz und Angst. Mütter versuchten, sich schützend über ihre Kinder zu werfen. Vergeblich. Einige rannten weg, um dem Inferno zu entgehen, wurden aber von anderen SS-Männern nach einigen Metern kaltblütig erschossen. Das Gemetzel dauerte weniger als zwei, drei Minuten. Als die Maschinengewehrschützen ihr Feuer eingestellt hatten, gingen einzelne Soldaten mit gezogener Pistole durch die am Boden liegenden Toten und Verwundeten. Denjenigen, die sich noch bewegten oder jammerten, schossen sie in den Kopf. Manchen Opfern traten sie mit ihren Stiefeln in die Schusswunden, nur um zu sehen, ob sie noch lebten. Wenn sie sich rührten, traf auch sie die Kugel. Dieser Tod war schnell und gnädig.
    Trotzdem waren auch jetzt noch nicht alle tot. Einigen war es gelungen, sich unter den Leichen ihrer Verwandten oder Freunde zu verbergen. Aber das war eine trügerische Sicherheit, sage ich Ihnen. Denn alle die, die das Massaker bis jetzt überlebt hatten, sollten qualvoller sterben. SS-Soldaten

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