Zweyer, Jan - Rainer
abschwellende Heulen der Luftschutzsirenen einen Fliegerangriff ankündigte. Kurze Zeit später fielen die ersten Bomben. Der Angriff galt den Industrieanlagen in Castrop.
Unsere Bewacher verließen ihre Posten. Einer rief uns zu, wir sollten unter den Wagons Deckung suchen. Unmittelbar darauf erzitterte die Erde. Es war, als ob das Ende der Welt gekommen wäre. Krachend fielen Teile der Verladeeinrichtung in sich zusammen. Ein Volltreffer. Ich warf mich unter einen der Wagen, als ich sah, wie Jupp von innen die Tür zu einem der kleineren Bunker öffnete, die überall auf dem Werksgelände verteilt waren. Er gab zwei Zwangsarbeitern, die im Bombenhagel orientierungslos umherirrten, durch Gesten zu verstehen, dort bei ihm Schutz zu suchen. Plötzlich erschien in der Bunkertür noch ein weiterer Mann. Er war in Uniform – der Betriebsobmann der Deutschen Arbeitsfront.
Zwischen den beiden kam es zu einem kurzen, heftigen Streit.
Als der eine der Zwangsarbeiter, es war Abraham Löw, ein deutscher Jude, den sicheren Bunker fast erreicht hatte, zog der Nazi seine Pistole und schoss Löw nieder. Dann richtete er seine Waffe auf den zweiten Gefangenen, der starr vor Angst stehen geblieben war. Jupp machte einen Schritt auf den Bewaffneten zu und wollte diesem in den Arm fallen. Der drehte sich blitzschnell seitwärts und schoss Jupp kaltblütig in den Kopf. Dann erschoss er den anderen Gefangenen, dessen Namen ich nicht kenne. Der Uniformierte stieß Jupps Leiche aus dem Bunker und schloss die Stahltür. Unmittelbar danach explodierte eine Bombe in meiner Nähe. Die Druckwelle riss mich hoch und ich stieß mit dem Kopf gegen eines der Räder des Wagons, unter dem ich lag. Ich wurde bewusstlos und erwachte erst später wieder auf meiner Pritsche. Der Angriff hatte zahlreiche Todesopfer unter den Bergleuten gefordert. Da fielen ein toter Kumpel namens Jupp und erst recht zwei tote Zwangsarbeiter nicht besonders auf. Einige Tage später erreichten die ersten amerikanischen Panzerspitzen Castrop und der Krieg war für uns beendet.«
»Ich verstehe immer noch nicht…«, stammelte Rainer.
»Es ist ja auch noch nicht zu Ende. Nach der Befreiung durch die Amerikaner blieb ich in Castrop. Ich hatte keine Verwandten mehr, kein Zuhause. Außerdem hörte ich, dass viele russische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, die in ihr Heimatland zurückkehrten, von dem NKWD wegen angeblicher Kollaboration mit dem Feind direkt weiter in die Gulags nach Sibirien geschickt wurden. Das Schicksal wollte ich mir ersparen. Ich war jetzt Bergmann, hatte nichts anderes gelernt. Ich blieb in Castrop, änderte meinen Namen, baute Erin wieder mit auf und lernte meine spätere Frau kennen.
Fünf oder sechs Jahre nach Kriegsende erkannte ich auf einer Fotografie in einer Tageszeitung, ich glaube, es war die Lokalausgabe von Castrop, den Nazi-Mörder wieder. Er stand in einer Gruppe von Abgeordneten der damaligen Zentrumspartei. Oder war es doch die CDU? Ich weiß es nicht mehr genau. Leider wurde sein Name weder in der Bildunterschrift noch im Artikel genannt. Und bedauerlicherweise habe ich vergessen, um was es damals gegangen ist. Nur an das Bild erinnere ich mich ziemlich genau: Im Vordergrund standen fünf oder sechs Männer dieser Partei; dahinter, auf einer Treppe und etwas erhöht, weitere vier. Alle trugen die immer etwas zu groß wirkenden typischen Anzüge der Nachkriegszeit. Den Mann in der ersten Reihe, den dritten von links, hatte ich zuletzt mit hasserfülltem Gesicht und einer Pistole in der Hand gesehen. Im Hintergrund war eine Schule abgebildet, glaube ich. Ich erwog damals, mit meinem Wissen zur Polizei zu gehen, habe mich aber dann doch dagegen entschieden. Wem hätten die Behörden wohl geglaubt? Einem ehemaligen russischen Zwangsarbeiter, der unter angenommenen Namen als Flüchtling in der Bundesrepublik lebte, oder einem honorigen, angesehenen Bürger? Hätten diese Morde überhaupt jemanden interessiert?
Nein, ich schwieg. Bis vor ein paar Wochen. Über einen ehemaligen gemeinsamen Arbeitskollegen ist Pawlitsch auf mich gestoßen. Er wollte zusammen mit früheren Arbeitskollegen die Geschichte des Bergwerkes Erin dokumentieren. Und da ich an der Aufbauarbeit beteiligt gewesen bin… Pawlitsch hat mir gefallen. Und so habe ich ihm wie jetzt Ihnen die Geschichte erzählt. Einige Tage vor seinem Tod hat er mich angerufen. Er wisse jetzt, wer der Mörder sei, von jenem Märztag 1945. Und er werde sein Wissen veröffentlichen.
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